IMPRESSUM
DATENSCHUTZERKLÄRUNG




Kulturgeschichte der Naturverfügung


Dr. Hartmut Schönherr     
 
Hafen
              Moudros auf Limnos 2008







Kulturwissenschaftlich basiertes Informationsangebot mit didaktischer und politisch-gesellschaftlicher Ausrichtung zu Naturbegriffen, zur Ideengeschichte der Nachhaltigkeit und zur Kulturgeschichte der menschlichen Naturverfügung und Naturaneignung.

INHALTE

Einleitung - Pleistocene Overkill - Jungsteinzeitliche Ausbeutungsverhältnisse - Daniel Quinn: Ismael - Der Tod Humbabas - Sintflut - Atharvaveda: Hymnus an die Erde - Prometheus-Mythos - "Bewahrung der Schöpfung" - Babylon - Taoteking - Die Verwandtschaft des Empedokles - Platons Atlantis - Lukrez: Natur als Stoffkreislauf - "Natur" im Neuen Testament - Manichäismus - Der christliche Klostergarten - Gärten des Islam - Naturwissen als Herrschaftswissen in Japan - Hildegard von Bingen - Joachim von Fiore: Das dritte Reich - Franz von Assisi - Christianisierung des Bergbaus - Francesco Petrarca - Paulus Niavis: "Iudicium Iovis" - Spinozas Naturkonzept - William Penn & die Neue Welt - Schlaraffenland - Carl von Carlowitz und die forstliche Nachhaltigkeit - Die Blütenträume des B. H. Brockes - Händels "Alcina" - Das Erdbeben von Lissabon - Deutscher Idealismus - Träume vom Friedensreich - Tullas Rheinbegradigung - Poetik des Kahlschlags: Eichendorff - Alexander von Humboldt: Der erste Naturschützer? - Adalbert Stifter und die Ökologie des Gartenbaus - Wagners Alberich: Sexualisierung der Natur - Bachofen: Mutterrecht - Stalins Terraforming-Projekte - Land-Art - Gaia-Hypothese - Medea-Hypothese - Naturdinge als Rechtssubjekte - Paradise Engineering - Epochenschwelle Corona



>LITERATURVERZEICHNIS


Hier geht es zu zwei Webangeboten von mir zum praktischen Naturumgang und zur Naturbetrachtung:

Olivenanbau, Obstbau, Kräuter
Astronomie






Dies vorweg: Eine Kulturgeschichte der Naturverfügung, des auch konzeptionell manifestierten menschlichen Umgangs mit Natur, muss sich, will sie nicht enzyklopädischen Umfang annehmen, auf bestimmte kulturelle Räume, historische Segmente, thematische Schwerpunkte beschränken oder eine strenge Auswahl treffen. Und wo sie in einem zeitgemäßen Sinne "Kulturgeschichte" sein möchte, darf sie im 21. Jahrhundert nicht mehr schlicht die Kulturgeschichte Europas meinen, ohne dies explizit zu machen.

Mein Anliegen ist, aus unterschiedlichen Regionen und verschiedenen Zeiten Zeugnisse des menschlichen Naturverhältnisses - Naturbegriffe ebenso wie konkrete, konzeptionell basierte Akte - zusammen zu tragen, die uns anregenden Aufschluss geben können über die Weisen, in denen menschliche Kulturen zu verschiedenen Zeiten ihren Bezug zur natürlichen Umwelt, auch am eigenen Körper, konzeptionell organisiert haben. Ein um besondere Exaktheit bemühter Titel hierfür könnte etwa lauten "Konzepte zum Umgang mit der natürlichen Umwelt aus den Kulturgeschichten der Welt". Das in etwas entspannterem Duktus sich anbietende Titelmodell "Beiträge zu einer ..." würde suggerieren, es könne einmal eine tatsächlich umfassende "Kulturgeschichte der Naturverfügung" geschrieben werden, wovon ich nicht ausgehe. Der Zeitgeist hält wenig von summarisch abgeschlossenen Enzyklopädien - und es gibt gute Gründe dafür. So möchte ich es bei der allgemeinen Titelgebung belassen.

Die historisch-zeitliche Reihung der nachfolgenden Beiträge soll keine Entwicklungslinie suggerieren, dieser Aufbau wurde lediglich zur Organisation des Materials gewählt und zur Orientierung der Leser. Ich gehe weder davon aus, dass Kulturgeschichte sich als lineare Höher- oder Weiterentwicklung angemessen darstellen lässt, noch vertrete ich die Auffassung von einer dekadenten Entwicklung hin zu einer kulturell verengten technologisch-konsumistischen Weltzivilisation.

Eine Organisation des Materials nach logischen Strukturen möchte ich vorläufig nicht vorschlagen. Denkbar wäre zunächst die Unterscheidung danach, ob ein Beispiel eher "die Natur" (eine der problematischsten Abstraktionen menschlicher Denkleistung) in den Vordergrund stellt oder "den Menschen". Was nicht darüber hinweg täuschen darf, dass es immer um menschliche Interessen geht, auch in Positionen, die "der Natur" die unbedingte Priorität einräumen. Bernhard Gill unterscheidet in "Streitfall Natur" 2003 einen utilitätsorientierten Diskurs (Nutzungsinteressen der Menschen steht im Vordergrund) von einem alteritätsorientierten Diskurs (Natur als das zu bewahrende Andere). Quer dazu steht die von mir vorgeschlagene Unterscheidung in ein herrschaftlich eingreifendes und ein zulassendes Naturverhältnis. Es macht eben einen Unterschied, ob der Zugriff für menschliche Nutzungszwecke brachial (Stichworte etwa "Kahlschlag" oder "Überfischung") oder mit Berücksichtigung ökologischer und sozialer Zusammenhänge (Stichwort "Nachhaltigkeit") erfolgt, ob die Natur ausgrenzend (Zuweisung von Reservaten) oder integrativ (gemeinsame Lebensräume) bewahrt wird. Gill führt darüber hinaus als dritten Typus im Naturdiskurs den identitätsorientierten Diskurstyp an, der Natur mit identitätsbildender Heimat verbinde und insofern schütze und nütze.

Die Bezeichnung "Naturverfügung" - statt etwa "Naturverhältnis", "Naturbezug", "Naturumgang" - wähle ich hier im Titel der breiten Spanne ihrer semantischen Bezüge wegen, sie reicht von "Herrschaft" ("Verfügungsgewalt") über "Arbeit" (im Marxismus) und "Autonomie" (in Fichtes Rechtslehre) bis zu "Heilung" (Schließen der "Fuge" im ökologischen Diskurs). Als ihr Stachel fungiert das Konzept der "differance" Jacques Derridas. Der Begriff "Natur" wird dabei von mir offen ausgelegt. Ich habe Beispiele aufgenommen, in welchen mal die "natura naturans" vorrangig gemeint ist, mal die konkreten Naturphänomene ("natura naturata") in den Fokus rücken, mal gar Natur im Sinn von "Wesen", "Sitten" und/oder "Gesetz" dominiert.





Die These vom Pleistocene Overkill

Vielfältig sind die Hinweise auf frühe menschliche Eingriffe in das Naturgefüge, die zumindest regional erhebliche Konsequenzen hatten. So sinGrafik zur Overkill-These,
                  Paul Martin 1984d die fruchtbaren Lössebenen des Kraichgau nicht nur Ertrag glazialer Verwehungen aus dem Urstromtal des Rheins, sondern teilweise auch zurückzuführen auf Entwaldungen durch die Michaelsberger Kultur, die städtische Siedlungen in Bereichen anlegte, die heute als Ausflugsziele mit Kapellen und idyllischen Weinbergen von Ausflüglern besucht werden. Die entwaldeten Kuppen wurden in die Täler gespült, das Großwild verschwand, da es keine Zuflucht mehr hatte. Ähnliches geschah im Mittelmeerraum, von Platon in seiner Beschäftigung mit dem Atlantis-Mythos beschrieben - auch wenn strittig bleibt, ob Platon selbst dafür auch die menschliche Tätigkeit verantwortlich machte oder nur Naturkatastrophen am Werk sah.

Am massivsten scheinen die ökologischen Konsequenzen in Nordamerika gewesen zu sein, wo in der Zeit um 9.000 v. Chr. alle Großsäuger ausstarben. Für dieses Aussterben, wozu es Parallelen in Südamerika, in Australien und im nördlichen Eurasien gibt, prägte Paul Martin, unter Berufung auf Alfred Russel Wallace ("The World of Life", 1911), den Begriff des "Pleistocene overkill" durch menschliche Jäger. Konkurrierende Theorien gehen von klimatischen Veränderungen (präboreale Oszillation) oder Kometeneinschlägen (die ihrerseits auch Klimaveränderungen bedingten) als Ursache aus. Allerdings zeigt der von Surovell, Waguespack und Brantingham 2005 in einem Paper für die "Proceedings of the National Academy of Sciences" (26.04.2005) durchgeführte Vergleich von Daten aus Afrika, Europa, Asien, Nordamerika und Südamerika eine augenfällige Korrelation zwischen dem Rückgang der Großsäugerpopulationen und dem Auftreten des Menschen - und keine zeitliche Korrelation des Rückgangs auf den verschiedenen Kontinenten - wie dies bei globalen klimatischen Veränderungen als Ursache der Fall sein müsste. Lediglich für einzelne Populationen, wie etwa der des Mammut, werden bislang überzeugende Belege für dominierenden, aber keineswegs ausschließlichen, klimatischen Einfluss vorgelegt.

Auffällig ist der insbesondere in Nordamerika abrupte Rückgang innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne von etwa 1.000 Jahren. Dem korrelieren jedoch keine Daten zu einer vergleichbar dynamischen Entwicklung der menschlichen Population. Verwiesen wird auf die Entwicklung neuer Jagdwaffen. Eine andere Hypothese zur Schließung der Erklärungslücke ist die Brandjagd-These, wonach die Jäger des Peistocene Flächenbrände anlegten und damit die Großsäugerpopulationen über das zur Ernährung notwendige Maß hinaus dezimierten sowie ihnen flächenhaft die Lebensgrundlagen entzogen. Paul Martin sprach gar von einem "Blitzkrieg" des Homo sapiens gegen die Großsäuger in Nordamerika. Für Australien gab es nach den Untersuchungen von Trueman und Field allerdings eine 10.000-jährige Koexistenz von Homo sapiens und Megafauna ("Proceedings
of the National Academy of Sciences", 07.06.2005).

Für die Umsetzung der Formel von der "Bewahrung der Schöpfung" ergeben sich aus der Annahme des Pleistocene overkill dramatische Schlussfolgerungen. "Was late-Pleistocene extinction so effective in upsetting the ecosystem that our National Parks, wilderness areas, and wildlands are an illusion? On a continent where herbivore herds evolved and thrived for tens of millions
of years, can there be a natural community without them?" - Martin in der Einleitung zu Martin/Wright 1967, S. VI.

Martin erhält in verschroben klingender Weise neuerdings Unterstützung von Seiten der Geo-Engineers. So erwägt der Genforscher George Church (Begründer des Personal Genome Projects), Elefanten durch Mammut-Gene kältetoleranter zu machen. Sie könnten dann die auftauenden russischen Permafrostböden verdichten und uns vor der Freisetzung des darin gebundenen Gases bewahren. Church gründete im September 2021 das Startup "Colossal" (sic!) zur Reproduktion des Wollhaarmammuts.

Lektüreempfehlung: Paul S. Martin/Herbert E. Wright (Eds.), Pleistocene Extinctions. The Search for a Cause. New Haven/London: Yale University Press, 1967




Jungsteinzeitliche Ausbeutungsverhältnisse

Die gängige Bezeichnung für den bedeutsamen kulturellen Umbruch in der Jungsteinzeit zur Sesshaftigkeit lautet "Revolution". Inzwischen ist alDuc de Berry, Stundenbuch, Juli, 15. Jahrhundertlerdings bekannt, dass der Übergang von einer Existenz als Sammler und Jäger zur Seßhaftigkeit mit dem Hauptakzent auf Landwirtschaft und Viehzucht zumeist nicht so abrupt verlief, wie der Begriff "Revolution" nahelegt. Landwirtschaft war in vielen Kulturen kein Gegensatz, sondern lange Zeit Ergänzung zur Subsistenz als Sammler und Jäger - so etwa in den Terra-Preta-Kulturen Amazoniens, Afrikas und Asiens. Und sesshafte Kulturen haben in der Regel Sammeltätigkeit und Jagd in erheblichem Umfang bewahrt - zumindest so lange, bis durch Entwaldung und Jagdzüge im Umfeld der Siedlungen nichts mehr zu jagen und zu sammeln war. In Europa haben zudem Wildbeuter- und Ackerbauernkulturen offenkundig über Jahrtausende unmittelbar nebeneinander existiert.

Zu einem tatsächlichen Bruch kam es erst durch die Ausbildung städtisch-feudaler Gesellschaften mit hoher Arbeitsteilung, die eine erhebliche Effizienzsteigerung der Nahrungsversorgung erforderte. Bislang wurde davon ausgegangen, dass erst diese Effizienzsteigerung als "Revolution" die Ausbildung von städtischen Strukturen ermöglichte und deren weitere Ausgestaltung stärkte, um etwa komplexe Bewässerungssysteme aufzubauen und zu erhalten. James Scott hat in seiner Studie "Against the Grain" die entgegengesetzte Position entwickelt. Scott zufolge wurde der Übergang zur ortsgebundenen Landwirtschaft wesentlich erzwungen, und zwar durch die Oberschichten städtischer Konglomerate. Am Beispiel der Stadt Uruk vor 5.200 Jahren kann er plausibel machen, dass der Bedarf dieser anspruchsvollen städtischen Gesellschaft durch erheblichen Druck nach innen und die nötigende Ansiedlung umliegender Volksgruppen für die landwirtschaftliche Produktion (eine frühe Form der "Schollenbindung") gedeckt wurde. Und dabei spielte Getreide eine vorrangige Rolle, wie bei allen frühen Stadtstaaten. Scott erklärt dies damit, dass Getreideanbau und insbesondere die Getreideernte besser kontrolliert werden konnten und Getreide akkumulierbar war, da weniger verrottungsanfällig als andere Ackerfrüchte. Getreide trage so wesentliche Merkmale des Geldes und sei optimal zu besteuern. Die Entwicklung der Landwirtschaft war in Uruk und anderen frühen Stadtstaaten eng verbunden mit Sklaverei, ausbeuterischer Arbeit, hoher Sterblichkeit. Die oft besungene "fruchtbare Wiege" der Zivilisation war nach Scott für die meisten Bewohner ein von Seuchen heimgesuchtes Jammertal endloser Arbeit auf den Feldern, mit massiver Umweltzerstörung durch Rodungen und großflächiger Bodenversalzung durch die Bewässerung.

Nun ist allerdings Uruk ein Sonderfall, der nicht schlicht übertragen werden kann etwa auf die jungsteinzeitliche Sesshaftwerdung in Mittel- und Westeuropa. Und auch für die unmittelbare Nachbarschaft Uruks ist daran zu erinnern, dass schon mehr als sechstausend Jahre zuvor am Göbekli Tepe die Sesshaftigkeit einsetzte und zu komplexen Kooperationen führte - so zu einem Tempelbau, der bislang als erster Tempelbau der Menschheit gilt. Über Ausbeutungsverhältnisse am Göbekli Tepe wird (noch) nicht spekuliert, stattdessen über "Urkommunismus am Göbekli Tepe" (Lars Hennings).

Scott stellt seiner Arbeit programmatisch ein Zitat von Claude Lévi-Strauss voran, der schrieb: "Writing is a strange thing. (...) it seems to favor rather the exploitation than the enlightenment of mankind." ("A Writing Lession", 1961) Was Scott dann grundsätzlich zum Verhältnis von Getreide und Geld sowie Getreide und Herrschaft ausführt, ist für das Verständnis menschlicher Naturverhältnisse von erheblicher Bedeutung. Seine Untersuchung "Against the Grain" schärft unseren Blick für den Zusammenhang von Naturbeherrschung und Herrschaft von Menschen über Menschen. Und es schärft den Blick darauf, wie weitreichend die Entscheidung für den Anbau bestimmter Nahrungsmittel die Entwicklung von Gesellschaften und Kulturen ebenso prägt wie die Formierung der Umwelt. Die jungsteinzeitliche "Revolution" bedeutete nicht nur die Durchsetzung der Sesshaftigkeit, sondern auch die erste Schichtung der Gesellschaft nach Besitzverhältnissen sowie die erstmals über abhängige Arbeitskraft vermittelten Eingriffe in den Naturhaushalt. Sie prägte das Naturverhältnis europäischer Gesellschaften bis hinein ins ausgehende Mittelalter (s. Abb. rechts).

Abbildung: Stundenbuch des Duc de Berry - Juli, 15. Jahrhundert
Lektüreempfehlung: James C. Scott, Against the Grain. A Deep History of the Earliest States. Yale University Press, 2017




Daniel Quinn: Ismael
Daniel Quinn (*1935) besuchte als Schüler eine private Jesuitenschule, studierte in St. Louis/Missouri und Chicago Anglistik und verbrachte 1955 ein Auslandssemsester in Wien. Nach dem Abschluss seines Studiums bereitete er sich an der Abtei "Our Lady of Gethsemane" in Kentucky auf ein Leben als Trappistenmönch vor, brach allerdings auf Empfehlung seines Mentors Thomas Merton (Autor von "The Way of Chuang Tzu" u.a.) ab, trat später gar aus der katholischen Kirche aus, und wurde, was er schon früh erstrebt hatte, Schriftsteller. In den 70er Jahren gründete er eine Schreibgruppe am Stateville-Gefängnis in Illinois.

Sein bekanntestes Buch ist "Ismael", beendet 1991, erstmals erschienen 1992, als dessen Held ein Gorilla figuriert, der über Telepathie mit Menschen zu kommunizieren vermag und der bestrebt ist, die Welt vor dem industriell-zivilisatorisch angebahnten Untergang zu bewahren, indem er Schülern sein subversives Weltwissen weitergibt. In "Ismael" ist sein Schüler ein weißer Amerikaner mittleren Alters, dessen Namen im Buch nicht genannt wird. Quinn bearbeitete sein Thema nochmals in "Ismaels Geheimnis", 1997 erschienen, nun aus der Perspektive einer zwölfjährigen Schülerin, Julie Gerchak.

 
Ismaels Botschaft ist die vom Sündenfall der Zivilisation, der durch Einsicht zu korrigieren sei. Mit dem biblischen "Im Schweiße deines Angesichts ...", dem Benediktiner und ihre Abkömmlinge, die strengeren Zisterzienser und deren wiederum strengeren Abkömmlinge, die Trappisten, in besonderer Weise verpflichtet sind, sei dieser Sündenfall religiös perpetuiert worden. Ausdrücklich wird im Roman auch auf das biblische "Macht euch die Erde untertan" hingewiesen. Es sei Teil des zivilisatorischen "Mythos der Nehmer" (Quinn 1992, S. 159).

Die "Nehmer/Taker" sind im Weltbild Ismaels die Vertreter eines linearen Fortschrittsdenkens, Träger von Kulturen mit dem Anspruch, genau zu wissen, was "wahr" und "falsch" sei. Sie seien etwa 8000 vor Christus erstmals aufgetreten und haben, so Ismael/Quinn, seitdem die Welt erobert (Quinn 1992, S. 144). Vor ihnen bestimmten die "Lasser/Leaver" die menschliche Präsenz auf dem Planeten Erde, sie wurden jedoch zunehmend von den Nehmern  verdrängt und als "primitiv" diffamiert. Der Unterschied Nehmer-Lasser ist bei Quinn allerdings nicht identisch mit dem zwischen Jäger/Sammler und Ackerbauern. Auch Ackerbauern können "Lasser" sein (Quinn 1992, S. 113). Allerdings lässt Ismael das Aufkommen der "Nehmer" beginnen mit der "landwirtschaftlichen Revolution" (Quinn 1992, S. 144, Parallelstellen z.B. S. 44 und S. 68). Der amerikanische Biologe Raymond Dasmann unterscheidet in "Toward a Biosphere Consciousness" 1988 zwischen "Ökosystem-Menschen" und "Biosphären-Menschen". Wobei "Ökosystem"-Denken negativ ausbeuterisch belegt ist. Dasmanns Unterscheidung entspricht weitgehend der von Quinn in "Nehmer" und "Lasser".

In seiner Danksagung zu "Ismaels Geheimnis" verweist Quinn auch auf Richard Dawkins Theorie zum "Egoistischen Gen" (1976) als Inspirationsquelle.


Lektüreempfehlung: Daniel Quinn, Ismael. Goldmann 1992




Der Tod Humbabas
Im Gilgamesch-Epos aus dem 2. Jahrtausend vor Christus erscheint als zentrale Heldentat des Gilgamesch die Tötung Humbabas/Huwawas. Humbaba ist ein vom Gott Enlil eingesetzter Wächter über einen Zedernwald westlich von Mesopotamien an den Hängen des Libanon-Gebirges (genannt wird auch das Sirara-/Kalamun-Gebirge). Gilgamesch wird unterstützt von seinem Freund Enkidu, den Humbaba  allerdings als Vertrauten sieht und mehrfach um Schonung bittet, da auch Enkidu aus der Wildnis, den "Bergen" gekommen sei. Es war eine Göttin (Ištar) in Person einer Priesterin (Šamḫat), die Enkidu in Uruk zunächst in die Kultur der Sexualität einführte, dann weiter zivilisierte und Gilgamesch als Freund zuführte. Doch Enkidu verleugnet seine Herkunft und ermutigt Gilgamesch, Humbaba zu töten. Als Enkidu zur Strafe dann von den Göttern mit einer tötlichen Krankheit geschlagen wird, beklagt er auf der siebten Tafel des Gilgamesch-Epos, seine heimatliche Wildnis in den Bergen je verlassen zu haben.

Ziel der Heldentat war, ganz und gar unmythologisch,
die Zedern zu fällen, um den Status und den Wohlstand Uruks zu mehren. Es ist heute schwer vorstellbar, wie die Zedern unter den Bedingungen der Zeit über eine Strecke, die in Luftlinie etwa 1.000 Kilometer umfasst, dann nach Uruk transportiert werden sollten. Im Epos selbst ist ein heute nicht mehr gangbarer Weg beschrieben, auf dem Wasser. So heißt es auf der fünften Tafel über eine bestimmte Zeder, "deren Wipfel an die Himmel stieß", "nach Nippur möge sie der Euphrat tragen" - zum Tempel Enlils, dessen Wächter die beiden Helden gerade erschlagen haben. Und ganz offensichtlich befinden sich die beiden an einem Fluß, der damals noch (oder auch nur in der Legende) dem Euphrat zufloss. Denn sie binden ein Floß, das sie zurück nach Uruk trägt.Relief aus dem 19. Jahrhundert vor Christus:
                  Tötung Humbabas durch Gilgamesch und Enkidu

Dass die Großtat des Gilgamesch die Verkarstung der Region einleitete und langfristig auch zum Niedergang der Kulturen Mesopotamiens beitrug, scheint den Autoren des Gilgamesch-Epos durchaus bewußt. Denn diese Tat führt letztlich - zusammen mit der Tötung des Himmelsstiers als zweiter Heldentat des Gilgamesch - dazu, dass Enkidu sterben muss und Gilgamesch selbst aus Angst vor dem eigenen Tod die Stadt verlässt und in die Wildnis zieht. Und in einem erst 2011 bekannt gewordenen Fragment der fünften Tafel erscheint Humbaba in einem durchaus positiven Bild, nicht einfach als grober Bösewicht, als der er bislang in den Übersetzungen gezeichnet wurde. Enkidu klagt in diesem Fragment "wir machten den Wald zur Einöde". Doch erst unter Nebukadnezar II. sollten die Wälder des Libanon tatsächlich weitgehend kahl geschlagen werden.

Das Gilgamesch-Epos kulminiert auf der elften Tafel im Sintflut-Bericht des Utnapischtim, dessen entscheidende Botschaft an Gilgamesch ist, dass er nicht durch seine beiden "Heldentaten", sondern durch Einsatz für die Anliegen seines Volkes, auch der einfachen Menschen, der Armen (wir dürfen ergänzen: die keine Tempel und Paläste aus Zedernholz brauchen), zu seiner Bestimmung finde. Der Sintflut-Bericht kann also durchaus gelesen werden als gezielte Mahnung zum "Politikwechsel" an Gilgamesch und an den von ihm zunächst vertretenen "alten" Menschentypus der Heldenzeit, der die Götter herausforderte und damit Naturkatastrophen heraufbeschwörte wie das Versiegen der Flüsse (im Kontext der Tötung des Himmelsstieres) oder eben die Sintflut.

Nach der Landung der Arche listet der Gott Ea gegenüber dem Gott Enlil auf, was anstelle der Sintflut besser hätte getan werden können, um der Naturzerstörung und damit Selbstzerstörung der Kulturen des Zweistromlandes Einhalt zu gebieten: "Statt daß du die Sintflut sandtest, hätte der Löwe sich erheben sollen, um die Menschenmenge klein zu halten!" Und weiters werden als Mittel zur Eindämmung des Siedlungsdrucks noch aufgeführt "der Wolf", "Hungersnot" und "Erra" (eine Gottheit, die Seuchen bringt).


Abbildung: Gilgamesch und Enkidu erschlagen Humbaba, 19.-17. Jahrhundert vor Christus
Textgrundlage: Stefan Maul, Das Gilgamesch-Epos. Neu übersetzt und kommentiert, Beck, 2005





Sintflut
Die drei bekanntesten Sintflut-Berichte, aus Indien, Babylon und der Levante, sind sich darin einig, dass der auserwählte Mensch - Vaivasvata Manu, Utnapischtim (Uta-napischti), Noah - ein Schiff bauen solle, um für die belebten Wesen das Überleben zu sichern. Im Śatapatha-Brāhmaa bleibt Vaivasvata nach der Flut zunächst alleine, doch aus seinen Opfergaben (u.a. Butterschmalz) entsteht im Verlauf eines Jahres eine weibliche Partnerin für ihn, mit der gemeinsam er Nachkommen hat. Im 3. Buch des Mahabharata nimmt Vaivasvata auf sein Schiff "all die verschiedenen Samen mit, welche einst die zweifachgeborenen Brahmanen aufgezählt haben". Dieser Bericht endet mit "Vaivasvata war willens, die Welt neu zu erschaffen". Ähnliche Berichte gibt es in den Puranas (Matsya-Purana und Bhagavata-Purana). Im babylonischen Gilgamesch-Epos nimmt Utnapischtim "allerlei Lebenssamen" mit auf sein Schiff, seine ganze Familie sowie "Vieh des Feldes, Getier des Feldes und alle Werkleute". Am elaboriertesten erscheint die biblische Noah-Erzählung, vermutlich auch die jüngste der drei Legenden, in welcher vier Menschenpaare, sieben Paare von "reinen" Tieren und je ein Paar "unreiner" Tiere auf die Arche gehen.

Wir haben uns daran gewöhnt, die Sintflut-Berichte als Erzählungen von (menschlicher) Schuld und (göttlicher) Strafe zu lesen, dramatisch aufgeladen durch einen (göttlichen) Gnadenakt für eine herausragende Einzelperson, die sich durch besondere Frömmigkeit auszeichnete. Gelesen als Dokumente menschlicher Naturverfügung gewinnen sie eine neue Dimension. Sie werden deutbar als Zeugnisse einer Auffassung, die es Menschen zutraut, eine gewaltige Naturkatastrophe zu überstehen und danach einen ausschließlich kulturell begründeten Neuanfang zu starten, der Züge einer zweiten - nun menschlichen - Schöpfung trägt. Im Mahabharata-Epos wird dieses Moment einer zweiten Schöpfung auch explizit formuliert: "Und Vaivasvata war willens, die Welt neu zu erschaffen." Damit wird der Mythos zum kaum überbietbaren Ausdruck menschlichen Selbstbewußtseins im Naturumgang - lange vor stalinistischem Terraforming und ähnlichen technologischen Großprojekten.

Entsprechungen zu diesen drei Sintflutberichten gibt es in zahlreichen weiteren Kulturen. Bei Hesiod und anderen griechischen Autoren finden wir die "Deukalionische Flut". Deukalion war Sohn des Prometheus, des Menschenfreundes, und dieser befahl ihm, ein Schiff zu bauen, um so mit seiner Frau Pyrrha der Flut zu entkommen. Von Tieren ist hier nicht die Rede, nur die Rettung der Menschen wird thematisiert. Eine Inka-Legende berichtet von einem Lamahirten, den das Verhalten seiner Tiere vor einer Flut warnte. Er stieg mit seiner Familie auf einen hohen Berg und blieb so verschont. Bei den Guarani-Indianern an der Ostküste Südamerikas gibt es die Legende von Tamandere, der mit seiner Frau auf einer schwimmenden Palme gerettet wurde, während alle Berge im Wasser versanken, auf denen seine Gefährten Schutz gesucht hatten. Die Azteken und andere mittelamerikanische Indianer kennen Sintflutlegenden, in denen ein großes Floß gezimmert wurde, dessen Benutzer durch einen Kolibri mit einem grünen Blatt im Schnabel erfuhren, in welcher Richtung sie wieder trockenes Land finden konnten. Auch bei den nordamerikanischen Indianern gibt es Flutberichte - allerdings fällt dort kein anhaltender Dauerregen, sondern Flutwellen überschwemmen das Land. Fast allen Legenden gemeinsam ist der starke Akzent auf den Neuanfang danach.

Diese Berichte können gelesen werden als Nachklänge einer globalen Katastrophe - möglicherweise mehrerer unterschiedlicher, regional differenzierter Katastrophen. Die teilweise verblüffenden Motiventsprechungen über Kontinente hinweg lassen sich deuten als Hinweise auf einen Kulturaustausch in frühgeschichtlichen Zeiten, der weit über das uns bislang Bekannte hinausging - es könnte sich aber auch schlicht um Übertragungen bei der Sammlung der nord-, süd- und mittelamerikanischen Legenden im 20. Jahrhundert durch den Atlantologen Charles Berlitz (1914-2003) und andere handeln.



Atharvaveda XII,1 - Hymnus an die Erde
"Die große Hymne an die Erde" wird XII,1 (Kanda XII, Sukta 1, Mantras 1-63) der Atharvaveda in den deutschen Übersetzungen genannt. Im Text gibt es Hinweise auf den Bergbau (Mantra 35), er dürfte daher in der frühen indischen Eisenzeit entstanden sein, am Ende des 2. Jahrtausends vor Christus. Die Atharvaveda gehört nicht zu den kanonisierten Schriften des Hinduismus. Und insbesondere im Hymnus an die Erde begegnet uns eine Weltanschauung, die wenig zu tun hat mit dem, was wir aus den Brahmanas und den Upanishaden kennen. Fremd mutet dieser Text innerhalb der heiligen Literatur des Hinduismus an, erinnernd an den Aton-Hymnus Echnatons. Die Überlieferung besagt, dass an der Abfassung der Texte des Atharvaveda auch Frauen beteiligt waren, während die einige Jahrhunderte jüngeren Texte der Brahmanas und der Upanishaden wohl ausschließlich von Männern geschrieben wurden, Angehörigen der beiden obersten Kasten, der Brahmanen und der Kshatriyas. Unzweifelhaft dokumentiert dieser Text noch matriarchale Traditionen.

Im Hymnus an die Erde geht es nicht um die Überwindung von Leid und Begehren, um Weisheit und Abkehr von den niederen Sinnen, wie uns dies aus den Upanishaden vertraut ist, sondern um ein gelingendes praktisches Leben. Die im Hymnus angesprochene "Erde" ("pṛthivī" - die Weite, das weite Land) ist weder eindeutig Schöpfung (natura naturata) noch eindeutig Schöpfungsprinzip (natura naturans). Angesprochen wird vielmehr in einer ganz und gar pragmatisch anmutenden Weise die Erde, der Planet mit seiner konkreten Gestalt und Materialität selbst - versehen mit Attributen eines nährenden, produktiven Prinzips. So wird die Erde im Mantra 17 explizit als "Mutter der Pflanzen" vorgestellt, an anderer Stelle (Mantra 10) als die Menschen nährende "Mutter Erde" (
"pṛthivī mātā"). Eines ihrer wichtigsten Attribute ist der Wald (11, 27). Daneben werden die wärmende Sonne (Mantra 15) und Prajāpati, der androgyne Schöpfergott der Veden (Mantra 43) genannt. Allerdings bleibt dessen Funktion untergeordnet, denn es ist die Erde, "die alles im Schoße trägt". Die männliche Ergänzung der Erde, ihr Gatte Parjanya, zuständig für den Regen, wird gleichfalls nur nebenbei gewürdigt (Mantras 12 und 42). Erwähnt wird auch Agni, in den wohl nachträglich eingefügten Mantras 19 und 20. Die Götternamen erscheinen eher pflichtgemäß eingestreut, Opfer und Zauber spielen eine untergeordnete Rolle in diesem Text - anders als in sonstigen Texten der Atharvaveda.

Die Anrufung der Erde in diesem Hymnus bleibt nahe an den konkreten Erscheinungen. Besonders bemerkenswert ist dabei Mantra 35, das klingt wie eine Selbstverpflichtung zu nachhaltigem Naturumgang: "Was ich von dir, o Erde, ausgrabe, das soll schnell zuheilen. Laß mich, o Reinigende, nicht deine empfindliche Stelle, nicht dein Herz durchbohren!" Hier wird offensichtlich der Bergbau angesprochen, was auch die Datierung auf den Beginn der indischen Eisenzeit nahelegt. Kein rituelles Opfer zum Ausgleich der Eingriffe wird angeboten, der Text verweist vielmehr auf die Selbstheilungskräfte der Natur - verbunden mit dem Versprechen rücksichtsvollen Umgangs.

Textgrundlage:Klaus Mylius (Hrsg.), Älteste indische Dichtung und Prosa, Wiesbaden: VMA-Verlag, 1981




Prometheus-Mythos
Der Prometheus-Mythos ist uns umfangreich überliefert einmal in der Theogonie des Hesiod (ca. 740 bis 670 v. Chr.), verfasst in der ersten Hälfte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts, einmal in einer Tragödie des Aischylos (wobei diese Zuschreibung von einigen Wissenschaftlern angezweifelt wird, der Zeus-Darstellung wegen), "Der gefesselte Prometheus", vermutlich um das Jahr 472 v. Chr. entstanden.

Bei Hesiod in der "Theogonie"  begegnet uns Prometheus als listiger Gott, der den Göttervater Zeus gelegentlich im Interesse der Menschen an der Nase herumführt und von diesem dafür bestraft wird. Zwei Stellen gibt es zu dieser Strafe bei Hesiod, die nicht eindeutig in Einklang zu bringen sind, zunächst wird in den Versen 521-534 Prometheus an einen Felsen gekettet, ein AdPrometheus Griechischer Tellerler frisst die immer wieder nachwachsende Leber des Gefesselten. In den Versen 613-616 könnte als Fessel ("desmos") aber auch das "Geschlecht und Volk der Weiber" ("genos kai phyla gynaikon") verstanden werden, das in den Versen davor (591-612) in reichlich burlesk-komödiantischer Weise als Fessel der Menschheit (=Mannheit) geschildert wird. Wollte Hesiod hier - zur Unterhaltung des (männlichen) Publikums seiner Rhapsodie - signalisieren, dass Verheiratetsein so schlimm sein könne wie das Schicksal des Prometheus?
 
In Hesiods "Werke und Tage", wird der Mythos sachlicher und knapper vorgestellt - wobei der zeitliche Bezug zur "Theogonie" umstritten ist. Hier ist es nicht das Geschlecht der Frauen allgemein, das der Menschheit Unheil bringt, sondern lediglich Pandora, die über den Bruder des Prometheus, Epimetheus, zu den Menschen gelangt. Allerdings bleiben die Ausführungen mehrdeutig, zumal das Altgriechische für "Mann" und "Mensch" das gleiche Wort "anthropos" verwendet. Die Fesselung des Prometheus an den Felsen wird in "Werke und Tage" nicht erwähnt, Zeus wendet sich an Prometheus lediglich in den Versen 53-56 mit der Drohung, er werde sich "dir selber und den kommenden Menschen zum Unheil" rächen für den Feuerraub - und zwar, wie dann in den nachfolgenden Versen ausgeführt wird, durch die Schaffung der Pandora. Diese Zuspitzung könnte der Abfassung des Textes als
Mahnung für Hesiods Bruder Perses geschuldet sein, dem Hesiod Habgier vorwarf - aber darüber hinaus als Mahnung für die zeitgenössische Gesellschaft insgesamt.

Aischylos stützt sich auf Hesiod, aber vermutlich auch auf andere, uns unbekannte Quellen. Prometheus erscheint bei Aischylos ganz explizit als Menschenfreund, als Kulturbringer, gar als Erlöserfigur, die gegen den strafenden Zeus die Interessen der Menschheit verteidigt.

Im 20. Jahrhundert wurde Prometheus aus technikkritischer Position zum Symbol einer selbstzerstörerischen Technokratie, die insbesondere durch die Anhäufung der Atomwaffenarsenale, aber auch durch rücksichtslose Ressourcenausbeutung und Umweltverschmutzung das Leben nicht nur der Menschen auf dem Planeten ernsthaft bedroht. In der amerikanischen Forschung zum Naturverhältnis der Sowjetunion (Stephen Brain, Douglas Weiner) werden als "Promethians" die Vertreter einer Position bezeichnet, die Natur als beliebige Verfügungsmasse des menschlichen Zugriffs verstehen und eine vollständig technologisch verfügte und gestaltete Umwelt als Ideal anstreben. Klaus Heinrich hat dem eine Rehabilitation der Prometheus-Figur als kritischer Aufklärer im politisch-sozialen Verständnis gegen alle Formen von Herrschaft - auch die einer totalitären Herrschaft über die natürliche Umwelt - entgegen gehalten.

Abbildung: Griechische Schale 550 v.Chr.
Lektüreempfehlung: Klaus Heinrich, Dahlemer Vorlesungen 8. Gesellschaftlich vermitteltes Naturverhältnis. Begriff der Aufklärung in den Religionen und der Religionswissenschaft, Frankfurt (Main)/Basel: Stroemfeld, 2007




"Bewahrung der Schöpfung" oder "Macht euch die Erde untertan"?

Das Christentum wurde von der Ökologiebewegung lange als ideologisch mitverantwortlich für den menschlichen Raubbau an der Natur angesehen. Die biblische Forderung "füllet die Erde und machet sie euch untertan" (1. Mose 1,28 - Lutherbibel 1984), das "Dominium terrae", sei die Grundlegung für eine jahrhundertelange Ausbeutung der Naturressourcen im menschlichen Interesse. Ausgearbeitet wurde diese Position vor allem durch den Technikphilosophen Lynn Townsend White, der 1966 in seinem Aufsatz "The historical roots of our ecological crisis" die jüdisch-christliche Begründung der Naturbeherrschung als Motor der Industrialisierung und Naturausbeutung vorstellte. Kritisch setzte sich mit seinen Thesen der Theologe Udo Krolzik auseinander in "Umweltkrise - Folge des Christentums?", 1979. Nach seiner Überzeugung schuf erst die Säkularisierung die Voraussetzungen für eine umweltzerstörende Naturbeherrschung (Krolzik 1979, S. 84).

1983 einigte sich auf Anregung der DDR-Delegation und des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel - im Gedenken des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, mit Blick auf das anhaltende Wettrüsten und die Umweltkrise - die Vollversammlung des (christlichen) Weltkirchenrates in Vancouver auf einen  "konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung/Conciliar Process of mutual commitment to justice, peace and the integrity of creation". Dieser Ansatz kann sich gleichfalls auf Bibelstellen berufen, so insbesondere auf 1. Mose 1,31 ("Und Gott sah, dass es gut war.") und 1. Mose 2,15 ("Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.")

Die relevanten Bibelstellen stammen allerdings aus dem Alten Testament. Im Neuen Testament finden sich keine vergleichbaren Passagen. Der Begründer des Christentums und seine frühen Anhänger haben sich ganz offenkundig für den Umgang mit den weltlich-natürlichen Ressourcen, mit der konkreten Schöpfung wenig interessiert - anders als etwa 600 Jahre später Mohammed und seine Anhänger. Dies kann allerdings auch vor dem Hintergrund verstanden werden, dass die Tora für Christus und das frühe Christentum weiterhin (mit den Modifikationen und Ergänzungen des "ich aber sage euch") in Gültigkeit blieb und als Teil des Alten Testamentes bis heute im Christentum Bestand hat. Die neue Botschaft des Christentums bezog sich auf das Verhältnis der Menschen untereinander und zu Gott, nicht auf ihr Schöpfungsverhältnis. Natur erscheint im Neuen Testament als genutzte Natur, als Weinberg, Olivenhain, Schaf- oder Schweineherde - und dies nur randständig.

Für die umstrittene Stelle 1. Mose 1,28 wird in jüngerer Zeit gefragt, ob die gängigen Übersetzungen dem Gemeinten gerecht werden, ob nicht eher ein gleichsam gärtnerischer Umgang (wie ihn 1. Mose 2,15 nahelegt) intendiert gewesen sei. Doch sind die Originalquellen in ihren Aussagen eindeutig. Das hebräische "
rə·ḏū" bedeutet "regiert", "ḵiḇ·šu·hā" bedeutet "unterwerft/nehmt in Besitz". Und so haben das auch die Verfasser der Septuaginta verstanden. Dort steht: "καὶ κατακυριεύσατε αὐτῆς καὶ ἄρχετε" - "und unterwerft sie (die Erde/" τὴν γῆν") und regiert (die Fische ...)". Der Theologe und Kabarettist Matthias Schlicht hat 1999 in einem Vortrag zur Gentechnik angeführt, dass "radah" im fruchtbaren Halbmond auch das Verhältnis eines Hirten zur Ziegenherde benennen konnte und "kabasch" biblisch auch die Urbarmachung von Land bezeichne (Josua 18). Nun geht es in Josua 18,1 allerdings um Landteilung nach einer Eroberung/Unterwerfung - und Urbarmachung wird in Josua 17,18 als Waldrodung angesprochen, mit einem Wort, das eher Kahlschlag meint als gärtnerische Pflege. Auch wenn dem Kahlschlag Anbau folgt, bleibt ein Unbehagen bei den aktuellen Deutungsversuchen zu 1. Mose 1,28 als Ausdruck eines ökologisch achtsamen Naturverhältnisses.

Die Auffassung, das Christentum habe die Menschheit der Natur gegenüber achtsamer gemacht im Vergleich zur Antike, findet sich explizit schon Anfang des 19. Jahrhunderts bei Alexander von Humboldt. In seinem "Kosmos" (1845-1862) schreibt er im V. Kapitel, "Naturbeschreibung. Naturgefühl nach Verschiedenheit der Zeiten und der Volksstämme": "Die christliche Richtung des Gemüts war die, aus der Weltordnung und aus der Schönheit der Natur die Größe und die Güte des Schöpfers zu beweisen." Er nennt als ersten Beleg Naturschilderungen in der Schrift "Octavius" des christlichen Apologeten Marcus Minucius Felix aus der Zeit um 200 nach Christus und zitiert ausführlich dann aus Schriften des Kirchenlehrers Basilius von Caesarea (330-379).

Es ist festzuhalten, dass das 1. Buch Mose für beide Positionen Unterstützung bietet, für die moderne "Bewahrung der Schöpfung" ebenso wie für ein radikales "Macht euch die Erde untertan", wie es von Bacon und Descartes an bis ins 20. Jahrhundert hinein gelesen wurde. Allerdings ist für beide Positionen keine spezifisch "christliche" Herleitung aus den kanonisierten Schriften des Christentums möglich. Einen Schlüsseltext zum Verständnis des Kulturprozesses, der die beiden Positionen strukturierte, bietet "Iudicium Iovis" von Paulus Niavis, 1495. Der Text wird weiter unten vorgestellt.

Festzuhalten ist auch, dass die unmittelbare Gottesbezogenheit des einzelnen - menschlichen - Individuums als fundamentaltheologische Position mit der Schöpfungsverantwortung aktuell in erhebliche Interessenkonflikte gerät. In extremis bedeutet diese ja, das Überleben auch nur eines einzigen Menschen über das Überleben der gesamten Pflanzen- und Tierwelt zu stellen. Bestenfalls eingeschränkt durch deren Notwendigkeit für das Überleben dieses einen Menschen.

Als rechtsphilosophische Position hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen "Grundlinien der Philosophie des Rechts", § 44, die Herrschaftsposition auf beklemmende Weise festgeklopft: "Die Person hat das Recht, in jede Sache ihren Willen zu legen, welche dadurch die meinige ist, zu ihrem substantiellen Zwecke, da sie einen solchen (Zweck - H.Sch.) nicht in sich selbst hat, (zu - H.Sch.) ihrer Bestimmung und Seele meinen Willen erhält, - absolutes Zeignungsrecht des Menschen auf alle Sachen." Ausdrücklich sind hier nach einer Notiz Hegels auch die Tiere als Sachen mitgemeint. Alle Gegenpositionen werden nach Hegel widerlegt "von dem Verhalten des freien Willens gegen diese Dinge". Wobei, christlich gesprochen, der freie Wille es uns eben auch erlaubt, das "Böse" zu wählen.

Lektüreempfehlung: Udo Krolzik, Umweltkrise - Folge des Christentums? Stuttgart/Berlin 1979




Die Hängenden Gärten von Babylon

In der Regierungszeit des babylonischen Königs Nebukadnezar II. (geboren ca. 640, Regierungszeit 605 bis 562 v. Chr., zuvor schon ab 620 von seinem Vater eingebunden in die Regierungsgeschäfte) wurden das Ischtar-Tor errichtet, die Medische Mauer gebaut, der Turmbau zu Babel vollendet und die Hängenden Gärten angelegt. Nebukadnezar II. betrieb auch eine forciert aggressive Außenpolitik, so wurde 587  v. Chr. von seinen Truppen der Tempel von Jerusalem zerstört.Die Hängenden Gärten von Babylon

Die Hängenden Gärten als eines der sieben Weltwunder der Antike werden üblicherweise mit dem Namen der Semiramis verbunden, einer Königin, die etwa 200 Jahre vor Nebukadnezar in Babylon regierte. Nach den Ausgrabungen und Untersuchungen Robert Koldeweys handelte es sich allerdings eindeutig um ein Bauwerk Nebukadnezars, errichtet für seine Frau Amyitis, die aus dem Land der Meder stammte, einer grünen und bergigen Region südlich des Kaspischen Meeres. "Hängend" ist dabei keine stimmige Bezeichnung, basierend auf dem griechischen "kremastoi", das auch "schwebend" bedeuten kann. Es handelte sich offensichtlich um begrünte Gebäudeterrassen, ein erstes Vorbild also für das, was Harry Glück in Wien, Alt-Erlaa, 1973-1985 bauen ließ und was heute Architekten wie Rüdiger Lainer weiter verfolgen. Die Bewässerung der Terrassenanlage wurde durch einen Paternoster bewerkstelligt, dessen Reste Koldewey entdeckte.

Wer die Hängenden Gärten in ihrer Bedeutung für die Kulturgeschichte der Naturverfügung verstehen möchte, darf den Bezug zu den anderen Bauwerken Nebukadnezars nicht unterschlagen. Auf Nachhaltigkeit waren die Hängenden Gärten so wenig angelegt wie Turm und Mauer - es ging um die Bedürfnisse einer kleinen Elite, um Herrschaft und ihren Erhalt. Um Babylon zu entwickeln wurden unter anderem die Zedernwälder des Libanon weitgehend abgeholzt. Die Hängenden Gärten sollten uns daher aufmerksam machen für die Ambivalenzen auch grüner Utopien - sichtbar geworden zuletzt in den fatalen Konsequenzen der Förderung von Biosprit. Schlecht eingesetzt zerstört auch ein ökologisch fundierter Ansatz die Landschaft und soziale Systeme, klug eingesetzt kann selbst der Bagger auf der Almwiese Landschaft und Biodiversität steigern, wie das Permakulturkonzept des Sepp Holzer zeigt, das Geoengineering im Kleinen einsetzt unter der Prämisse, die Natur anschließend weitgehend alleine machen zu lassen. Was Holzer praktiziert hat Vorläufer etwa in den Klosteranlagen der Zisterzienser mit ihren Karpfenteichen.

Festzuhalten bleibt: Auch grüne Utopien haben einen substantiellen Bezug zu dem, was die Kulturgeschichte am Beispiel des Turmbaus zu Babel aus alttestamentarischer Sicht als "Hybris" brandmarkt, der (göttliche) Strafe auf den Fuß folge ("Hochmut kommt vor dem Fall"). Die Hängenden Gärten verbildlichen ein positives Potenzial menschlicher Eingriffe in den Naturhaushalt, heute verengt als "Ausgleichsmaßnahmen" gehandelt. Der Turmbau zu Babel sollte uns aber zugleich an die notwendige Bilanzierung kultureller, sozialer, politischer und ökologischer Kosten aller, auch ausgleichender, Eingriffe erinnern.




Dào Kě Dào Fei Cháng Dào
Wenig wissen wir über Laozi (Laotse, Lao-tse, Lao Tzu, Laudse, Lau-dse), die Referenzperson des Daoismus, dem Brecht das Gedicht "Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration" (1938) widmete. Die Botschaft des Brechtschen Gedichtes ist, dass ohne Fragende, ohne Schüler auch der Weise, auch der beste Lehrer spurlos vergehe. Von der Lehre des Laozi teilt uns Brecht, aus dem Munde eines Knaben, der den Ochsen des Reisenden führt, mit: "Daß das weiche Wasser in Bewegung/Mit der Zeit den harten Stein besiegt."

Die in China verbreiteten Legenden vom Leben des Laozi nennen für sein Wirken den Beginn der "Zeit der Frühlings- und Herbstannalen", als die ersten bekannten chinesischen Philosophenschulen sich um die Lehre der richtigen Staatsführung im Lernen aus der Geschichte bemühten. Laozi sei in dieser Zeit als Archivar am Hof von Zhou beschäftigt gewesen und auch als besonders gelehrt in den Philosophenschulen gerühmt worden. Einmal sei der junge Kongzi/Konfuzius (551-479) zu ihm gekommen, habe aber keine ihn befriedigenden Antworten auf seine Fragen bekommen und sei enttäuscht wieder abgereist. Bald darauf habe Laozi den Hof verlassen, um sich auf Wanderschaft ("Emigration" ist eine Deutung Brechts) zu begeben. Die chinesische Überlieferung spricht von einem Wasserbüffel, auf dem Laozi gereist sei. Unterwegs habe er auf die Bitte eines Grenzwächters hin seine Lehre, das Daodejing niedergeschrieben. Angedeutet wird auch, dass er auf seiner Wanderung später an den Ganges gekommen sei und dort den Buddha (563-483 nach der "Langen Chronologie") getroffen habe. Und in der Tat gibt es zwischen dem frühen Buddhismus und dem Daoismus signifikante Übereinstimungen.

Ob es Laozi als reale Person wirklich gab ist umstritten. Möglicherweise ist er eine Erfindung der Daoisten, die im 3. Jahrhundert mit den Konfuziusanhängern um die Vorherrschaft im politischen Beratergewerbe rangen - als Vertreter der "reinen" Lehre des Dao gegenüber seiner Formalisierung im Konfuzianismus. Die historischen Belege und die Rezeption in China sprechen dafür, dass es sich beim Daodejing um eine Sammlung überlieferter Weisheiten verschiedener Eremiten, Geschichtsschreiber und Philosophen handelt, die erst um 300 v. Chr. kanonisiert wurde, möglicherweise durch Zhuangzi (365-290). Über das Dao sagt Zhuangzi (in der Übersetzung von Thomas Merton/Johann Hoffmann-Herreros): "'Tao' sagen, ist: ein 'Nicht-Ding' nennen. Tao ist nicht der Name von etwas, 'was existiert'."

Das Daodejing beginnt mit einem Epigramm aus zwei Sätzen. Der erste Satz sagt uns über den "Weg", die Wegleitung, das richtige Leben, die gelingende Staatsführung, die Methode der Wahrheitsfindung, das Dao, dass wir im Rahmen der Identitätslogik nichts über das Dao aussagen können. Dies wird im folgenden Satz auch über die Anrufung/die Namen der Dinge/des Seienden gesagt. Gemeinhin wird dies übersetzt im Sinne von: Was immer wir über das Dao sagen können, erfasst dieses nicht. Was immer wir über die Namen des Seienden sagen, erfasst diese nicht.

Der Daoismus wird in der westlichen Rezeption als naturphilosophisches Konstrukt verstanden. Der Theologe, Missionar, Pädagoge und Sinologe Richard Wilhelm hat schon früh entschieden darauf aufmerksam gemacht, dass der Daoismus nicht zu reduzieren ist auf die Lehre des Daodejing, welche als eine moralphilosophische Umsetzung des älteren Daoismus verstanden werden kann. Von Interesse für uns heute ist die Ableitung einer Morallehre aus naturphilosophischen Prinzipien, was dem westlichen Denken keineswegs fremd, aber doch etwas verdächtig ist. Schon bei Heraklit finden sich Ansätze dazu, Empedokles führte dies begrifflich stringenter aus, Epikur hat dergleichen unternommen, Spinoza entwickelte dies aus seiner Formel "deus sive natura", aktuell arbeiten naturethische Positionen sich daran ab.

Die beiden ersten Epigramme machen deutlich, wo der Link zwischen Naturphilosophie und Moralphilosophie zu sehen ist. Was in westlicher Philosophie Geist, Erstes Prinzip, Erster Beweger wäre, in westlicher Religion der unsagbare Gott, Demiurg und Bewahrer, ist hier das Dao, ein Prinzip, das sich selbst sein Anderes ist, das keinen Satan, keinen Sündenfall, keine Materie als sein Anderes fordert, an dem es arbeiten muss, gegen das es sich zu behaupten hat als Herr und Meister. Der Weg, das Dao ist auch der Nicht-Weg. Die begriffliche Welt ist auch die unbegreifbare Welt. Der Daoismus bietet einen Ansatz, Natur nicht als defizitär, als erlösungsbedürftig, als durch den Menschen zu seiner Erfüllung zu bringendes Mängelwesen zu lesen, sondern als Lehrwerk - auch für ein Moralsystem, das nicht auf Strafen oder Erziehen abhebt, sondern auf Folgerichtigkeit und Ausgleich. Dabei werden die Grundprinzipien des Naturprozesses zur Anleitung, nicht, wie in jüngerer Zeit bisweilen in popularisierter Verhaltensforschung, das Verhalten von Tieren.


Lektüreempfehlung: Thomas Merton, Sinfonie für einen Seevogel. Geschichten und Meditationen des Zhuangzi, Ostfildern: Patmos, 2012




Empedokles und das "Bewußtsein der Verwandtschaft"
Wir sind es gewohnt, die Lehre von der Seelenwanderung als dem westlichen Denken fremd anzusehen. Doch bei den Orphikern und einigen Vorsokratikern gab es auch in der griechischen Antike ausgeprägte Konzeptionen zur Reinkarnation - etwa zeitgleich mit den maßgeblichen Lehrströmungen in Hinduismus und Buddhismus. Wirksam blieben sie bis Platon, mit jüdischen und später christlichen Vorstellungen waren sie nicht vereinbar.

Wir kennen, neben der widersprüchlich überlieferten Lehre der Pythagoreer, vor allem die Wiedergeburtslehre des Empedokles, die in seiner nur in Bruchstücken sekundär überlieferten Ethik ("Reinigungen", zwei Bücher) vorgestellt wird und die in seiner teilweise im Original überlieferten Naturphilosophie ("Physik", drei Bücher) eine gewisse theoretische Grundlegung erfährt, was seine Theoriekonstruktion besonders interessant macht für den Diskurs des menschlichen Naturverhältnisses. Das erste Buch der Physik, bruchstückhaft überliefert vor allem durch Simplikios und im "Straßburger Papyrus", enthält die Lehre, wonach es kein wirkliches Werden und Vergehen gebe, sondern lediglich eine Neuzusammensetzung und Trennung der vier Urstoffe, Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser. Zusammensetzung/Vereinigung und Trennung werden dabei geleistet von den beiden Urkräften Liebe (philia, philotes) und Haß (neikos , neikeos, neikeos echthei). Damit skizziert Empedokles eine Naturtheorie, die nicht in eine materielle und eine spirituelle Welt trennt, nicht in Schöpfer und Schöpfung.

Allerdings gefährdet er seinen Ansatz in der Morallehre mit der unklaren Bestimmung dessen, was sich (nach heutiger Vorstellung) beim Gang der Reinkarnationen bewahrt als das Reinkarnierte. Er führt lediglich aus, dass es der "Haß" (so wird "neikos" bei Empedokles meist übersetzt - die Bedeutung ist auch "Streit", "Zwietracht") sei, der Wiedergeburten antreibe. Es ist daher problematisch, seine Lehre als Reinkarnationslehre zu charakterisieren und zu eng vom Modell der Orphik her zu deuten. Wenn etwa Heraklit den Zwiespalt (polemos) als Vater aller Dinge bestimmt, meint er keine zu überwindende böse Macht, sondern ein schöpferisches Prinzip (falls wir nicht die Deutung bevorzugen, er habe nur konkret politisch den Krieg gemeint). Und davon zehrt auch die Lehre des Empedokles, auch wenn er dem Haß lediglich zuspricht, die Elemente für den schöpferischen Prozess stets neu bereit zu stellen.

Dem Haß beigesellt ist die Liebe, die aus den Teilen immer wieder ein neues Ganzes fügt. Als historische Referenz für ihre Kraft zitierte Empedokles in Fragment 128 das "Goldene Zeitalter", das bei ihm klar matriarchalische Züge trägt, mit der "Liebe" (Kypris, philia) als Herrscherin: "Da wurde kein Altar mit gräulichem Stierblut besudelt, sondern das galt damals bei den Menschen als der größte Frevel, einem andern Wesen das Leben zu rauben und seine edlen Glieder hinunterzuschlingen."
Empedokles wendet sich also entschieden gegen das Töten und Verspeisen von Tieren als barbarische Akte und begründet dies explizit aus seiner Wiedergeburtslehre, etwa im Fragment 137: "Der Vater hebt den eigenen Sohn auf, der eine andere Gestalt angenommen hat, schlachtet ihn und spricht das Gebet dazu (...). In genau derselben Weise ergreifen den Vater der Sohn und die Mutter ihre Kinder, rauben ihnen mit Gewalt das Leben und verspeisen das Fleisch der Verwandten."

Was Empedokles über das Goldene Zeitalter sagt, ist überliefert vor allem in einem Fragment des Theophrast (374/369-288/285). Dort findet sich eine Formulierung, die aus Sicht aktueller Diskurse um Tierrechte und "Bewahrung der Schöpfung" von brennender Aktualität als - vergessenes - kulturelles Erbe des sogenannten "Abendlandes" wird: "Als nämlich, wie ich meine, die Liebe (Philia), und das heißt das Bewußtsein der Verwandtschaft (to syggenes aistheseos), alles beherrschte, mordete niemand etwas, weil man die übrigen Lebewesen als verwandt betrachtete." (Mansfeld 1987, S. 477).

Die Spannung zwischen Physik und Ethik des Empedokles wird in der Forschung oft als Ausdruck eines Leib-Seele-Dualismus in seiner Lehre gesehen - so vor allem bei Wilhelm Nestle 1906. Das verleugnet jedoch die Ansätze in der Philosophie des Empedokles, diesen bei den Orphikern und anderen zelebrierten Dualismus aufzuheben und damit der materiellen Naturwelt Eigenwert zuzusprechen bzw. sie als unablösbaren Anteil der Menschenwelt anzusehen. Die Wiedergeburtslehre des Empedokles mündet in einer Wiederkehr des Goldenen Zeitalters durch eine Verlagerung in der Gewichtung der beiden Urprinzipien Liebe und Streit zugunsten der Liebe, nicht durch eine Vernichtung des antagonistischen Prinzips. Darauf hat mit Nachdruck Jaap Mansfeld bereits 1987 und erneut - etwas abgeschwächt - 2011 (gemeinsam mit Oliver Primavesi) in den Reclam-Ausgaben vorsokratischer Texte hingewiesen (Mansfeld 1987, S. 390 et pass., Mansfeld/Primavesi 2011, S. 408).

Bemerkenswert ist auch, dass Empedokles seine Naturlehre verknüpft mit der Einordnung der Götterwelt in den Schöpfungsprozess als geschaffene Wesen unter anderen - lediglich mit besonderer Lebensdauer, "langlebig" - Physika I, 269-272 (Straßburger Papyrus). Das wiederkehrende Goldene Zeitalter als Reich der Liebesherrschaft bei Empedokles stellt in seiner philosophischen Durchdringung ein wichtiges Bindeglied dar zwischen mythologischen Vorstellungen und der christlichen Lehre bzw. auf ihr basierenden chiliastischen Konzeptionen etwa bei Joachim von Fiore und späteren philosophischen Konzeptionen im Deutschen Idealismus.

Friedrich Hölderling macht den Philosophen in seinem Drama "Der Tod des Empedokles" zu einem Charakter, der durch sein Wirken eine Ahnung vom Goldenen Zeitalter zu geben vermochte, der im Einklang mit der Natur lebte, aber an seinen eigenen Ansprüchen und dem Versuch einer politischen Umsetzung seiner Ideale scheiterte.

Lektüreempfehlungen: Maria Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. II, 2009. Jaap Mansfeld/Oliver Primavesi, Die Vorsokratiker, 2011




Platons Atlantis-Berichte
Die beiden späten Dialoge "Timaios" und "Kritias" (vermutlich nach 360 v. Chr. entstanden) enthalten Platons Thematisierung des Atlantis-Mythos, wobei "Kritias" gar den Nebentitel "Atlantikos" trägt. "Kritias" wurde nach "Timaios" geschrieben und verweist ausdrücklich auf das bereits im "Timaios" Gesagte (108e).

Im "Timaios" beginnt die Atlantis-Erzählung mit einem Bericht des Solon von einer Ägyptenreise. Dort haben ihm die Priester von Saïs Geschichten über die "alten Zeiten" der Stadt Athen erzählt. Zunächst erwähnen sie kurz die Deukalionische Flut und den nachfolgenden Neuanfang durch Deukalion und Pyrrha (22a, 22b). Dann folgt eine grundlegende Reflexion über die "(v)iele(n) und mannigfache(n) Vernichtungen der Menschen", z.B. die im Phaëton-Mythos berichtete durch "eine Abweichung der am Himmel um die Erde kreisenden Sterne" - lesbar als Meteoriteneinschlag oder erhöhte Sonnenaktivität (22c, 22d). Der "Timaios" beschreibt auch in Grundzügen die Topographie von Atlantis und ihre Position im Atlantik. Im "Kritias" wird das Staatswesen der Atlantiden differenziert beschrieben, vor allem aber wird die Gesellschaft der Ur-Griechen und ihre militärische Auseinandersetzung mit den Atlantiden geschildert, als diese Richtung
Athanasius
                  Kircher Atlantis 1664Europa und Asien expandierten. Dabei wurden sie von den Griechen, insbesondere den Athenern, erfolgreich gestoppt - ehe Attika teils und Atlantis vollständig durch eine Naturkatastrophe zerstört wurden.

Die Atlantis-Erzählung bei Platon wird heute in den Wissenschaften vorwiegend gedeutet als Versuch Platons, seine eigenen Staats- und Gesellschaftsauffassung durch einen fiktiven historischen Bezug zu legitimieren. Als Tatsachenberichte wurden die beiden Texte  bislang vor allem von Atlantis-Erforschern aufgefasst, von Athanasius Kircher über Ignatius Donelly und Paul Schliemann bis Charles Berlitz. Ex negativo lässt sich die geringe Neigung der zeitgenössischen Wissenschaftsgemeinde, Platons Ausführungen wörtlich zu nehmen, auch begründen durch die massive Erschütterung, die dies für die Fortschrittsidee bedeutet. Die Vorstellung, unsere kulturelle Entwicklung sei als weitgehend kontinuierlicher Anstieg von Wissen und Kunstfertigkeit - mit gelegentlichen Rückschlägen - zu verstehen, steht eher hilflos vor Berichten, wonach unsere Vorfahren mehrmals die Schrift und damit verbunden eine Hochkultur erlernt und wieder vergessen/verloren hab
en.

Insbesondere gibt uns dies für die Zukunft erhebliche Unsicherheiten. Bei der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in risikobehaftete wirtschaftliche Projekte wird angesichts ungelöster Probleme (Endlagerung radioaktiver Abfälle, Rückbau oder Kontrolle stillgelegter Atommeiler, Ersetzung verbrauchter Ressourcen, Plastikmüllentsorgung etc.) stets darauf verwiesen, dass die Menschheit bei der zu erwartenden weiteren Entwicklung diese Probleme selbstredend erfolgreich lösen werde. Platon erschüttert diesen Glauben mit seiner Atlantis-Geschichte nachdrücklich, hält jedoch am Sinn der Bemühungen um eine Verbesserung der Verhältnisse fest. Dies mit einem Projekt gesellschaftlicher Organisation, das anmutet wie die Wiederinstallation eines historisch für den Mittelmeerraum überholten Kastensystems, das es den "alten" Griechen - 9.000 Jahre vor Platon, zum Beginn der präborealen Oszillation mit einem Meeresspiegelanstieg von ca. 9 Metern! - ermöglicht habe, gegen die Heeresmacht der Atlantiden zu bestehen.

Die Entsprechungen in den diversen Sintflut-Legenden und vor allem die Koinzidenz mit dem Beginn der präborealen Oszillation sind durchaus Argumente dafür, hinter den Platonschen Atlantis-Berichten einen historischen Wahrheitskern zu vermuten. Dass Platon die historische Überlieferung - sofern es sie tatsächlich gab - für sein ideologisches Anliegen zupass kam und entsprechend von ihm überformt und ausgestaltet wurde, ist anzunehmen. Bislang fehlen allerdings hinreichende archäologische Evidenzen. Was gegen die Existenz einer Hochkultur mit Ausstrahlung in den Mittelmeerraum in der Zeit um 10.000 vor Christus spricht, ist auch das Fehlen entsprechender Befunde aus Ägypten, dem Land, das laut Platon die Erinnerung an Atlantis und die zeitgleich lebenden hochentwickelten Ur-Griechen bewahrte.

In unserem Kontext sind Platons Berichte vor allem aufschlussreich als Zeugnisse eines intensiven Bewußtseins von der Verletzlichkeit menschlicher Zivilisation, ihrer Abhängigkeit von Naturprozessen, von Veränderungen der Umweltbedingungen und Katastrophen natürlichen Ursprungs.

Abbildung: Atlantis-Karte von Athanasius Kircher, aus seinem "Mundus subterraneus", 1664-68 - Norden liegt unten.




Lukrez: Natur als Stoffkreislauf
Die junge christliche Kirche hat ihn nicht gemocht. Kirchenvater Hieronymus schreibt zu Lukrez (99-55 v. Chr.), er sei durch einen Liebestrank wahnsinnig geworden und habe sich mit 44 Jahren das Leben genommen. Der Selbstmord wird auch in anderen Quellen angeführt, ansonsten wissen wir wenig über das Leben des Philosophen. Der von Hieronymus genannte "Liebestrank" verweist eher auf die Kategorie übler Nachrede denn auf einen Lebensbericht. Mit der Möglichkeit des Selbstmordes beschäftigt sich Lukrez im 3. Buch von De rerum natura (rer. nat.). Das ganze Buch gilt der Einheit von Seele und Körper und dem Thema des Todes, vor dem sich zu fürchten unsinnig sei. Es gebe keinen "Tartarus" in den zu stürzen nach dem Tode wir erwarten müssten (rer. nat. 3, 966). Später im Buch bringt Lukrez Beispiele von Menschen, die sich wegen Krankheit oder Altersermattung ruhig selbst den Tod gegeben haben. So etwa Demokrit (rer. nat. 3, 1039ff), der beim Nachlassen seines Gedächtnisses im hohen Alter (heute nennen wir das "Demenz") den Tod vorzog. Demokrit wurde etwa 90 Jahre alt.

Demokrits Lehre war, vermittelt über Epikur, Vorbild der Atomlehre des Lukrez, die in "De rerum natura" entwickelt wird. Für Lukrez besteht die ganze Welt, einschließlich der Seele, aus Atomen. Auch Gedanken seien nichts weiter als Bewegungen von Atomen. Im ersten Buch werden die Grundlagen seiner Atomlehre entwickelt. Interessanterweise wird dabei zunächst die Göttin Venus angerufen und gepriesen. Sie solle den Dichter und Denker segnen und begleiten bei seiner Arbeit, auf dass diese erfolgreich und gehört werde. Allerdings ist Venus kein Prinzip in der Lehre des Lukrez. Bei ihm gibt es nur die Atome als Urbausteine, die in stetem Wechsel neu formiert werden. Über das organisierende Prinzip hüllt er sich in Schweigen. Ganz zu Beginn erscheint in einer poetischen Wendung die "Künstlerin Erde/daedala tellus" (rer. nat. 1, 7), die Blumen hervorbringe. Ansonsten spricht er von der "natura", erklärt jedoch nicht weiter, wie diese Atome zu steuern und zu strukturieren vermag. Er bemüht sich vielmehr, die Weltdinge rein deskriptiv zu erfassen und ohne Rekurs auf Götter und Dämonen. Wo der Erklärungsbedarf drängend wird, verweist er lakonisch auf "Samen/semine".

Prämisse seiner Lehre ist, dass nichts aus Nichts entstehen könne, dies gelte für jedes Ding. "Denn entstünde es aus Nichts, so könnt aus jeglichem Dinge jegliche Gattung entstehn und nichts bedürfte des Samens." (rer. nat. 1, 19). Nebenbei findet sich dieser Gedanke auch bei Empedokles in Vers 261ff des ersten Buches seiner Physik. An Empedokles kritisiert Lukrez, dass er sich auf lediglich vier Elemente stütze, Luft, Erde, Wasser und Feuer. Er hebt ihn jedoch weit über die anderen Vorsokratiker hinaus und beschäftigt sich eingehend mit ihm (rer. nat. 1, 716ff).



"Natur" im Neuen Testament
Im Neuen Testament kommt Natur im allgemeinen Sinne von natürlicher Umwelt kaum vor. Wenn sie komplex erscheint, so als bloße Kulisse, als Inszenierungsangebot für Wunder, etwa beim Gehen über Wasser und bei der Besänftigung eines Sturmes, oder in Topoi der Leidensgeschichte als menschlich gestaltete Natur, etwa im Garten Gethsemane. Individualisierte Naturphänomene dienen häufig positiv als Bild für Christus oder seine Anhänger, wobei Weinstock und Ölbaum, also zwei der wichtigsten Kulturpflanzen, dominieren. Gelegentlich ist ein negativer Bezug auffallend, so wird ein Feigenbaum verflucht, da er keine Früchte trage (Markus 11,14) und Schweine werden zum Blitzableiter für das Böse (Markus 5,13). Wobei wir auch hier von gleichnishaft-bildlicher Rede ausgehen müssen, bei der Deutung des Sachbezuges ist also Vorsicht geboten.

Konzeptionell erscheint Natur gelegentlich im Neuen Testament im Sinne einer allgemein Naturordnung - mit deutlich kultureller Formatierung. So etwa in Römer 11,24, wo ein "von Natur" ("kata physin") wilder Ölzweig "wider die Natur" ("para physin") auf einen veredelten gepropft wird. Thematisiert wird als Teil dieser Ordnung auch die "menschliche Natur" in einem diffus biologisch-sozialen Referenzrahmen. Dies geschieht zumeist in lehrhaften Kontexten, was nicht erstaunt angesichts der dezidiert gesellschaftlich-sozialen Ausrichtung schon des frühen Christentums.

Zur Natur des Menschen äußern sich die Evangelisten in jenem bekannten "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach." So etwa in Markus 14,38 ("To men pneuma prothumon he de sarx asthenes." Die Verbindung von "fleischlich" und "menschlich" stellt der 1. Korintherbrief 3,3 her: "Eti gar sarkikoi este hopou gar en hymin selos kai eris kai dichostasiai ouchi sarkikoi este kai kata anthropon." Sündiges Fleisch, leibliche Lüste, Fleischgenuss (wobei unklar bleibt, ob nur Opferfleisch gemeint ist oder Tierfleisch allgemein) sind zentrale kritische Themen im Römerbrief wie im ersten Korintherbrief. "Menschliche Natur" ist damit aufs engste assoziiert. Es ist daher wenig überzeugend, wenn die Lust- und Leibfeindlichkeit des Christentums, wie häufig geschieht, erst auf Augustinus zurückgeführt wird.

Im 1. Korintherbrief 11,14 werden lange Haare bei Männern gezeichnet als gegen das gerichtet, was die Natur lehrt ("he physis didaskei") - was bemerkenswerterweise keinen Einfluss auf die späteren Jesusdarstellungen hatte. Gelegentlich werden auch einander gegenübergestellt das Geistige ("to pneumatikon") und das seelische-sinnlich-naturhafte ("to psychikon") - so 1. Korintherbrief 15,46. Dass Menschen auch von Natur ("physei") gut handeln können, lehrt Römer 2,14.



Natur/Schöpfung als Erlösungswerk im Manichäismus
Im Manichäismus erscheint Natur als Phänomen einer zweiten Schöpfung, welche nach dem Sieg der Dunkelheit über den Urmenschen/Lichtgott Ohrmizd (Ahura Mazda) anhob, um die Befreiung der Lichtteile aus der Gefangenschaft in Finsternis zu leisten. Als Abschluss der zweiten Schöpfung wurde der Mensch geschaffen, "nach Form und Gestalt der Götter", vordergründig im Dienste der bösen Gottheit Az stehend, die in einer dem Šābuhragān, Manis grundlegender Lehrschrift, zugesprochenen Handschrift (M 7983) verkündet:

"Ich habe Erde und Himmel, Sonne und Mond, Wasser und Feuer, Bäume und Pflanzen, wilde und zahme Tiere euretwegen geschaffen, damit ihr dadurch in der Welt froh, glücklich und erfreut werdet und meinen Willen tut." (Handschrift M 7983, Zeilen 1139-1148, zitiert nach Hutter 1992, S. 96)

Az schafft die Welt als Gefängnis des Lichtes. Allerdings legen andere Grundtexte des Manichäismus nahe, dass sie dies nach dem Plan einer Urgottheit tut, deren Ziel es ist, die Lichtteilchen wieder zu befreien. Was es bedeutet, den Willen der Az zu erfüllen, zeigen die Ausführungen zu den Handlungen der ersten Menschen einige Zeilen später:

"Als dann der 'Erste Mensch' und die 'Weibliche der Glorien', der erste Mann und die erste Frau, begannen, auf der Erde zu verweilen, da erwachte die Az in ihnen, und Zorn erfüllte sie. Und sie begannen, Quellen zu verstopfen, Bäume und Pflanzen zu schlagen, rasend auf der Erde zu verweilen und gierig zu werden. Vor den Göttern aber fürchten sie sich nicht." (Handschrift M 7983, Zeilen 1171-1186)

Nichts also hören wir hier von Paradies und Sündenfall. Von Anbeginn sind die Menschen dem Bösen, Az, verfallen - es scheint gar, sie wurden von ihm geschaffen. Über die Entwicklung des Menschen nach der Geburt heißt es in einer Abhandlung über das Verhältnis von Körper und Seele ganz analog in der gleichen Handschrift:

"Und Wasser, Feuer, Bäume und die Geschöpfe, seine eigene Familie, schlägt und quält er. Und Az und Sinnenlust werden durch ihn froh, denn ihren Willen und (ihre) Weisung erfüllt er. Aber weder Wasser noch Feuer noch Bäume noch Geschöpfe werden durch ihn froh. Denn er wird ihr Feind und Quäler. Und nicht hört er, denn Az hält ihn bewußtlos und 'schlechtseelig'." (Handschrift M 7983, Zeilen 1213-1229, zitiert nach Hutter 1992, S. 107)

In Verkennung seiner ihm nach Manis Auffassung zugedachten Aufgabe sieht der Mensch zunächst die Schöpfung als Verfügungsmasse an. Und wird darob von Mani in einer Weise gerügt, die wenige Parallelen in der Kulturgeschichte hat. Am ehesten etwa 1.220 Jahre später im "Iudicium Iovis" von Paulus Niavis (siehe einige Kapitel weiter unten).
Im "Sermon von der Seele", einem frühen Text des östlichen Manichäismus, müssen die Menschen, die den fünf Elementargöttern (Luft/Äther, Wind, Licht, Wasser, Feuer) Schaden zufügen, zur Hölle fahren (Sundermann 1991, S. 15).

Der Manichäismus wendet das biblische "Macht Euch die Erde untertan" ganz entschieden kritisch. Als frühe Formulierung ökologischer Anliegen taugen die bislang erschlossenen einschlägigen Lehrpassagen allerdings nur bedingt. Zu allgemein bleiben die Aussagen und nur unklar erscheint eine Gegenposition. Der Vorwurf, "Pflanzen zu schlagen", macht auch eine vegetarische Ernährung problematisch, um nur ein Beispiel zu nennen.

Als eigentliche Aufgabe des Menschen erscheint im Manichäismus nicht eine "Bewahrung der Schöpfung" im heutigen Verständnis, sondern die Erfüllung der Schöpfung durch die Befreiung der Lichtteile aus der Verhaftung in dunkler Materie. Dies geschehe etwa durch die Ernährungsweise der Erwählten - wobei Ernährung dreifach zu verstehen ist, durch Nahrungsmittel, kosmische Einflüsse und Sinneswahrnehmungen. Wir dürfen allerdings vermuten, dass einem zeitgenössischen Manichäismus Slow Food näher stünde als Fast Food, erneuerbare Energien näher als Kohle- oder Atomkraftwerke und Naturparks näher als Freizeitparks.

Die Mahnung zu einem behutsamen Naturumgang sollte nicht darüber hinwegsehen lassen, dass die menschliche Natur im Manichäismus umfassend abgeurteilt und negativ gezeichnet wird: "Und in ihn (den männlichen Körper Gehmurds/Adams, ähnlich sind die Ausführungen zum weiblichen Körper Murdiyanags/Evas - H.Sch.) wurden hineingelegt ihre Gier und Sinnlichkeit, Geilheit und Koitus, Feindseligkeit und Verleumdung, Neid und Sündhaftigkeit, Zorn und Unreinheit, ? und Bewußtlosigkeit, Behaftetsein mit einer schlechten Seele und Zweifel, Diebstahl und Lüge, Grausamkeit und übles Handeln, Hartnäckigkeit (?) und ?, Rache und ?, Qual und Kummer, Schmerz und Zahnweh, Armut und Betteln, Krankheit und Alter, Stinken und Räuberei (?). Und (auch) jene verschiedenen Sprachen und Stimmen der Ungeheuermißgeburten, aus denen jener Körper gebildet war, gab sie dem Geschöpf, auf daß es die verschiedenartigen Sprachen spreche und verstehe." (Böhlig 1995, S. 115).

Lektüreempfehlungen: Manfred Hutter, Manis kosmogonische Šābuhragān-Texte, Wiesbaden: Harrassowitz, 1992. Werner Sundermann, Der Sermon von der Seele, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991. Alexander Böhlig (Übers.), Die Gnosis. Der Manichäismus, München/Zürich: Artemis & Winkler, 1995




Die Welt als Garten I: Der christliche Klostergarten
Das Christentum ist über den verlorenen Paradiesesgarten des Alten Testamentes mit dem Gartenthema signifikant verbunden. Doch im Neuen Testament erscheint das Thema kaum. Einzig der Garten Gethsemane, der Garten der Ölpresse, hat herausragende Bedeutung - in der Leidensgeschichte Jesu. Erst mit der Regula Benedicti, 66.6, wird der Garten zu einem prägnanten Bild im Christentum, als zentraler Bestandteil monastischer Lebensführung. Die Regel 66 handelt von der Autarkie des Klosters, die unter anderem durch einen eigenen Garten ("hortus") gesichert werden solle, um die Mönche von jeder äußerlich-weltlichen Zerstreuung abzuhalten. Damit begann die Erfolgsgeschichte christlicher Klöster als Zentren der landwirtschaftlich-gärtnerischen Entwicklung, in der insbesondere die Benediktiner und ihre reformistisch-strengeren Abkömmlinge, Zisterzienser und Trappisten, sich auszeichneten. So wurde beispielsweise das Wissen um den Olivenanbau am nördlichen Mittelmeer während der mittelalterlichen Kältezeit in Benediktinerklöstern bewahrt und der Olivenanbau dann in der spätmittelalterlichen Wärmezeit  von diesen Klöstern ausgehend neu belebt.

Klöster entstanden häufig auf Rodungsinseln, mit welchen die Klostergründungen auch zu Pionieren in der Erschließung noch unbesiedelter Regionen wurden. Damit konnten sie anschließen an Josua 17,18 - im  Zuge der Eroberung kanaitischer Gebiete wurde dem Stamm Josephs ein Berggebiet zur Rodung übergeben. Die erste Benediktinergründung auf dem Monte Cassino 529/540 wurde exemplarisch, angelegt im Bereich eines ehemaligen Apollotempels und einer römischen Befestigungsanlage, zerstört 577 (Langobarden), neu besiedelt 717, erneut zerstört 883 (Sarazenen) und im Gefolge immer wieder aufgrund seiner strategisch bedeutsamen Lage umkämpft.

Die benediktinische Regel des "ora et labora" befreit die Arbeit (als Arbeit mit den Händen, am natürlich Vorhandenen), von dem Makel, der ihr insbesondere in der griechischen Stadtkultur anhaftete und den Judentum wie Christentum mit der Strafe nach dem Sündenfall ("im Schweiße deines Angesichts") verbanden. Dafür hatte bereits Augustinus in "De Genesi ad litteram" 8,8 die Voraussetzungen geschaffen, indem er darauf hinwies, dass auch vor dem Sündenfall gearbeitet wurde, jedoch als Mitarbeit an der Schöpfung Gottes. Ein Ansatz, den das Mönchstum für seine Arbeit gleichfalls reklamierte. Insbesondere der Klostergarten sollte so zu einem Spiegelbild des Paradiesgartens werden. Ein "Paradies auf Erden" zu schaffen, war also nicht erst die Idee chiliastischer Strömungen von Joachim über die Quäker und andere protestantische Gruppen bis zu Teilen des Marxismus. Interessant ist der Unterschied zwischen östlichem und westlichem Mönchstum, auf den Udo Krolzik hingewiesen hat: Während im östlichen Mönchstum auch sinnlose Arbeit als hilfreich auf dem Weg zum Heil angesehen wurde, gab es im westlichen Mönchtum (das diese Auffassung durchaus auch kannte) eine starke Tendenz, sinnlose Arbeit zu vermeiden und ermüdende Arbeit durch Maschinen zu ersetzen, so ist bereits aus dem 6. Jahrhundert etwa der Ersatz von Getreidemahlen per Hand im Kloster durch eine Wassermühle dokumentiert (Krolzik 1979, S. 179).

Gut dokumentiert ist der Beitrag der Benediktinergründungen zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert zur Kultivierung Österreichs. Die Ungarneinfälle brachten Rückschläge, doch ab 1060 expandierten die Klöster erneut und leisteten dann vor allem in der Barockzeit einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung und Stabilisierung des Habsburgerreiches, dessen Gärten heute gelegentlich als Ausdruck einer "Gartenmanie" der Habsburger gewertet werden. Referenz der österreichischen Feudalgärten waren dabei unter anderem die barocken Gartenanlagen des Benediktinerstiftes Melk, die ideologisch den Paradiesgarten, praktisch unter anderem den englischen Landschaftsgarten zitierten.

Lektüreempfehlung: Udo Krolzik, 'Macht Euch die Erde untertan ...!' und das christliche Arbeitsethos. In: Klaus M. Meyer-Abich: Frieden mit der Natur, 1979




Die Welt als Garten II: Gärten des Islam
610 Jahre nach Christi Geburt und vier Generationen nach der Gründung des ersten christlichen Klosters auf dem Monte Cassino hat der Begründer des Islam, Mohammed ibn Abd Allah, nach eigenem Bericht sein Erweckungserlebnis, während des Ramadan, des "heißen Monats" im arabischen Kalender. Die Gestaltung dieses Erlebnisses in der Sure 96 zeigt das Vorbild der Psalmen, Mohammeds Auftreten orientierte sich an den Figuren von Mose und Jesus, die im Koran beständig präsent sind, auch namentlich. Aufgewachsen im multireligiösen Pilgerort Mekka, bei einem mit dem Pilgerwesen beruflich befassten Großvater, war Mohammed mit der jüdischen und mit der christlichen Überlieferung bestens vertraut. Von ihnen übernahm er den radikalen Monotheismus, den er verband mit einer Neubelebung des Tieropfers und mit vormonotheistischen Göttlichkeitsvorstellungen, die das Numinose als andauernd in der Schöpfung tätig wirksam ansahen.
Isfahan Bagh-i Hizar Jarib
Die Auffassung der andauernden Präsenz des Schöpfers in der Schöpfung bedingte eine andere Haltung zur natürlichen Umwelt als sie das Christentum entwickelte. Sie ist zu lesen vor dem Hintergrund, dass der Koran beide Traditionen beerben und wenden wollte, die christliche und die jüdische, als Erneuerung der Religion Abrahams, wie Mohammed seine Sendung verstand. Wo das Christentum zum Weltverhältnis auf das Alte Testament verweisen konnte, beansprucht der Koran eine eigenständige Position und Lehre. Dazu stammt der Koran aus einer Region, die weit trockener war und  schwieriger zu bewirtschaften als die Levante. Ein achtsamer Naturumgang, insbesondere mit der Ressource Wasser, ergab sich als unabdingbar. Dies spiegelt sich etwa in der Sura 4:119 wider. Dort ist es der Satan, der bedinge, dass die Menschen, Ungläubige, die Schöpfung verunstalten! In der Sura 55:10 wird deutlich gemacht, dass die Schöpfung nicht für den Menschen alleine, sondern für alle Geschöpfe gemacht sei.

Insbesondere das Bild des Gartens hat die Naturauffassung des Islam nachhaltig geprägt. So finden wir im Koran 150 Stellen zu Garten ("dschanna"), davon 59 Stellen zum Paradiesgarten als ursprünglicher Behausung Adams und Evas sowie Erfüllungsort jenseitiger Verheißung. In der Sura al-Baqara, 2:265, erscheint der Garten als verheißungsvolles Bild für die Gläubigen, die wohltätig sind nicht zur Selbsterhebung und des gesellschaftlichen Ruhmes wegen, sondern einzig um Allah zufrieden zu stellen und für sich selbst (anfusihim). Dem gegenüber steht der Stein, der von einer Schicht Muttererde überzogen ist, die bei Regen abgespült wird (Sura 2:264) - während der Garten bei Regen reiche Früchte trägt. Charakteristisch für den Garten im Koran ist, dass ein Wasserlauf ihn durchzieht. Dies bestimmt auch die realen Gärten des islamischen Kulturkreises, die sich zudem durch eine streng geometrisch-rechwinklige Anlage und eine Einfriedung auszeichnen.

Eine hochentwickelte Gartenkultur gab es zur Entstehungszeit des Islam im gesamten Orient. Spektakuläre Anlagen waren allerdings an historisch zurückliegende Machtkonzentrationen gebunden und lebten zur Entstehungszeit des Islam nur noch in Überlieferungen aus Altägypten, Babylon und Altpersien fort. Eine Erinnerung daran bewahrte auch das hebräische Wort für einen eingehegten Garten, Park, Hain: "pardes/pardec" auf, das aus dem Altpersischen entlehnt ist. Die Gartenwelt des vom Islam in den ersten Jahrhunderten geprägten Kulturraums war durch arabische, persische und türkische Traditionslinien beeinflusst. "Drei Auffassungen von der Natur, von der Landschaft und mithin vom Raum, von Anfang an konfliktär." (Petruccioli 1995, S. 9) Im 10. Jahrhundert wurde insbesondere und modellgebend die feudale persische Gartenarchitektur unter islamischen Vorzeichen neu belebt.

Das größte Heiligtum des Islam ist der schwarze Quader der Kaaba in Mekka, ein altes abrahamitisches Heiligtum und nach islamischer Überzeugung von Abraham und Ismael gemeinsam erbaut am ehemaligen Ort des Paradiesgartens. Mekka selbst hat keinen repräsentativen Garten (mehr?), allerdings den zentral bedeutsamen Brunnen "Zamzam", dessen Quelle schon den Paradiesgarten gewässert habe.

Abbildung: Rekonstruktion des Bagh-i Hizar Jarib in Isfahan
.
Lektüreempfehlung: Attilio Petruccioli (Hrsg.), Der islamische Garten, Stuttgart 1995




Naturwissen als Herrschaftswissen - das japanische Modell
Die seit der Verfassung von 1947 nur noch mit repräsentativer Macht ausgestattete Yamato-Dynastie in Japan, die älteste Erbmonarchie der Welt, begründete im 4. und 5. nachchristlichen Jahrhundert mit Hilfe chinesischer und koreanischer Einwanderer ihre Macht durch die Übernahme neuer Technologien in der landwirtschaftlichen Bewässerung und im Militärwesen. Im 7. Jahrhundert gestaltete die Dynastie nach chinesischem Vorbild Verwaltung und Bildungswesen tiefgreifend um. In dieser Zeit wurde auch der  Titel "Tennô" (Beherrscher des Himmels/Himmlischer Herrscher) installiert, ausgestattet mit der Auffassung von der göttlichen Abkunft des japanischen Kaisertums. Der Buddhismus wurde in diesem Kontext faktisch zur Staatsreligion.

Den Untersuchungen des Japanologen Christian Steineck/Raji C. Steineck zufolge, der an der Universität Zürich lehrt, entwickelte sich in der kulturellen Blüte des 8. Jahrhunderts in Japan eine spezifische Auffassung von Naturwissen als Herrschaftswissen. Das Bildungssystem war ganz den Zwecken der Verwaltung und der Herrschaftsstabilisierung untergeordnet. Naturprozesse mussten verstanden werden als beherrschbar durch den Tennô - dies wurde umgesetzt durch eine Verbindung des technischen Wissens mit dem magischen Wissen, wie es in buddhistischen Klöstern tradiert wurde. "So trieb man noch 1206 eine unglückliche Planetenkonstellation auf Geheiß des Tennô durch buddhistische Rituale auseinander" (Steineck 2010, S. 31).

Dargestellt wird das Naturwissen der Zeit Steineck zufolge in den beiden historiographischen Werken Kojiki  (712) und Nihonshoki (vor 735), zwei konkurrierende Chroniken der japanischen Mythologie und Urgeschichte, in einem Verzeichnis der Provinzen und ihrer Besonderheiten mit dem Titel "Fudoki", in der Gedichteanthologie Manyoshu, in buddhistischen Schriften und in Gesetzen sowie Verwaltungsvorschriften. Ein dominierender Naturbegriff lässt sich dabei nicht greifen, aber doch eine stringende Auffassung von Natur als dem Tennô und der gesellschaftlichen Funktionalität unterworfenem Komplex.

Auf den ersten Blick abseits der gesellschaftlichen Funktionalität scheint der Naturbegriff zu stehen, der sich in den Gedichten der Zeit widerspiegelt. Hier werden Empfindsamkeit für Landschaftsbilder, für jahres- und tageszeitliche Stimmungen und unscheinbare Naturgegebenheiten zelebriert. Steineck sieht aber auch hier die "Technik der Herrschaft" am Werk: "In einem wesentlich anthropozentrischen Weltbild disponiert die rechte Wahrnehmung der Umgebungsatmosphäre auch zum rechten Handeln" (Steineck 2010, S. 31). Was nicht erstaunt, waren die großen japanischen Dichter des 8. Jahrhunderts doch oft hochrangige Mitglieder der Staatsverwaltung wie Gouverneure oder Generäle. Andere gehörten in den unmittelbaren Umkreis des Tennô als Hofdichter oder als Hofdamen.

Konzeptionalisiert wird Natur in verschiedenen Begriffen, von denen keiner den Gehalt der "natura naturans" aufweist. Entsprechend fehlt auch ein Konzept der "natura naturata". Der Begriff, der am ehesten dem Begriff eines Naturganzens entspricht, "tenchi", bedeutet "Himmel und Erde". Mit der Scheidung der beiden beginnt, ähnlich wie im Alten Testament, die Ordnung des Kosmos. Allerdings folgt dem nicht die Schöpfung der Lebewesen mit dem Zielpunkt Mensch. Eine Scheidung in belebte und unbelebte Natur kennt der altjapanische Naturbegriff ebenso wenig wie eine Hierarchisierung der Lebewesen. Herrscher der Natur ist nicht der Mensch, sondern einzig der Tennô.
 
Lektüreempfehlung: Christian Steineck, Vormoderne ostasiatische Naturbegriffe und ihre ethische Bedeutung. In: Michael Fischer, Die Kulturabhängigkeit von Begriffen, Ffm: Lang, 2010





Hildegard von Bingen (1098-1179)
Die berühmte Klage der Elemente im "Liber vitae meritorum" III,1 der Hildegard von Bingen lautet: "Wir können nicht laufen und unseren Weg demgemäß vollenden, wie unser Gebieter es uns bestimmt hat. Denn die Menschen drehen uns mit ihren bösen Werken um wie eine Mühle. Daher stinken wir vor Pest und vor Hunger nach der ganzen Gerechtigkeit." (Liber vitae meritorum/LVM III,1 - übersetzt von Maura Zátonyi) Das scheint bereits vorweg zu nehmen, was der Humanist Paulus Niavis Ende des 15. Jahrhunderts in seinem "Iudicium Iovis" von antiken Gottheiten verhandelt sein lässt. Bei Paulus Niavis ist der Bergbau im Erzgebirge Anlass der Klage von "Terra Mater". Und bei Hildegard? Auf den ersten Blick handelt es sich hier um Verfehlungen der Menschen allgemeiner Art, um Laster, Boshaftigkeit, rücksichtslose Lebensführung, Hass, Neid und so fort, die den Umsturz der Elemente bewirken. Doch dürfen wir ihre Äußerungen aus dem Mund der Elemente nur symbolisch lesen? Der Bergbau im Soonwald bei Bingen erlebte im 11. Jahrhundert einen Aufschwung. Wir müssen annehmen, dass auch in der Nähe des Klosters Rupertsberg Kohlemeiler standen, die der weiter folgenden Klage "die Luft speit so viel Schmutz aus, weil die Menschen ihren Mund nicht zur Rechtschaffenheit öffnen" (LVM III,2) insbesondere bei Westwind eine konkrete Grundlage hätten geben können.

Und der Medizinhistoriker Heinrich Schipperges deutet dies ganz so, er schreibt vom "wahrhaft ökologischen Auftrag" des Menschen, der bei Hildegard zu finden sei, und von seiner (des Menschen) Schuld "an Luftverschmutzung und Mißernten, an Krankheiten und klimatischen Katastrophen" (Schipperges 2004, S. 61). Entsprechend übersetzt Schipperges LVM III,2: "Noch aber sind alle Winde voll vom Moder, und die Luft speit so viel Schmutz aus, daß die Menschen kaum noch wagen, ihren Mund aufzumachen" (Schipperges 2004, S. 60). Im lateinischen Original steht: "Venti de fetore rauci facti sunt, et aer sordiditatem euomit, quoniam homines ad rectitudinem os suum non aperiunt." Es ist erkennbar, wie beide Übersetzungen über den Befund hinaus interpretierend verfahren. Wobei Hildegards Erläuterungen (LVM III,26 etwa) eher für die Übersetzung von Zátonyi sprechen - vielleicht aber auch nur den Konventionen folgen, nicht dem primären Anliegen der naturkundlich im Kontext der Zeit vorzüglich gebildeten Autorin.

Unübersehbar ist bei Hildegard von Bingen der Bezug zur Apokalypse des Johannes. Deren Bilderwelt ist nach bisherigem Wissensstand aus Naturkatastrophen und gängigen Katastrophenschilderungen der Zeit genommen, nicht aus dem Bereich der menschlichen Naturnutzung. Von Johannes ausgehend und durch die ganze Geschichte des Christentums hindurch werden Naturkatastrophen gedeutet als Strafgerichte Gottes für menschlichen Ungehorsam, für Laster und Sünde. Bei Hildegard finden wir eine ganz erstaunliche Umdeutung. Bei ihr greift Gott nicht strafend in das Naturgeschehen ein - vielmehr erscheinen die Elemente selbst verstrickt in das Tun der Menschen, vom Menschen aus der Bahn geworfen: "Die Menschen sind ja mit den Elementen und die Elemente mit den Menschen verbunden" (LVM III,23).

Hildegardis - eine der ersten Mahnerinnen unseres Kulturraumes gegen einen nicht-nachhaltigen Naturumgang? Lesen wir noch, was die Naturforscherin, Theologin und Psychologin in LVM II die "Maßlosigkeit" sagen lässt: "Wonach es mich verlangt und was ich suchen kann, das sammle ich ein und enthalte mich keineswegs. Warum sollte ich mich enthalten, wenn ich doch keine Belohnung dafür bekomme? Warum sollte ich aufgeben, was ich bin, wenn doch jede Gattung nach ihrer Art existiert?" (LVM II,13). Dem wird von der "discretio" geantwortet: "Alles nämlich, was Gott eingerichtet hat, gibt einander Antwort." (LVM II,14) Dies stützt wiederum die "ökologische" Deutung Schipperges'.

Das LVM (Liber vitae meritorum) wird zitiert, wo nicht anders angegeben, nach der Übersetzung von Sr. Maura Zátonyi OSB.
Lektüreempfehlung: Heinrich Schipperges, Hildegard von Bingen, München: C. H. Beck, 2004 (5. Auflage, zuerst 1995)




Das dritte Reich des Geistes bei Joachim von Fiore
Joachim von Fiore (~1130/35-1202) war Sohn eines Notars in Celico/Kalabrien. Nach einer standesgemäßen Ausbildung arbeitete er selbst einige Jahre als Notar in Cosenza und dann in der Kanzlei am Hof von Wilhelm I. in Palermo. Ab etwa 1160 widmete er sich verstärkt religiösen Themen, pilgerte nach Jerusalem, zog als Prediger durch die Lande und trat schließlich in ein Zisterzienserkloster ein. 1191 begründete er seinen eigenen Orden als strengere Ausgründung der Zisterzienser, die ihrerseites erst 1098 als Orden einer strengeren Observanz des Benediktinertums entstanden waren. Joachim lebte und wirkte im zeitlichen und konzeptionellen Umfeld der Blüte des Katharertums, war älterer Zeitgenosse des Franz von Assisi und des Dominikus von Caleruega.

Er begann seine religiöse Karriere als apokalyptischer Wanderprediger, der das unmittelbar bevorstehende Erscheinen des Antichristen und den Anbruch des Tausendjährigen Reiches verkündete. Wie auch die anderen Apokalyptiker seiner Zeit bezog er sich dabei auf das Johannesevangelium. 1165 hatte er nach eigenem späteren Bekenntnis bei der Lektüre des Johannesevangelium (Joh. 14,16ff) seine Vision vom Dritten Reich des Geistes, das nun anbreche, nach dem Reich des Vaters (Hauptanteil Altes Testament/Ende Neues Testament) und dem Reich des Sohnes (zu gleichen Teilen Altes und Neues Testament). Seine um Joachim von Fiore - Grafik der drei Reichedas Jahr 1200 ausgearbeitete  Konzeption vom Dritten Reich (Hauptanteil Neues Testament/Beginn Altes Testament) ist widersprüchlich und bricht implizite mit den vertrauten messianischen Konzeptionen, die er selbst zunächst vermutlich (die Quellenlage zu seinem Leben und Wirken ist dünn) vertreten hatte, in zweifacher Weise. Zum einen folgen seine drei Reiche nicht abrupt aufeinander, sie überschneiden einander vielmehr. Zum zweiten verdankt sich die Verwirklichung des Dritten Reiches nicht einer singulären Erlöserfigur (auch wenn Joachim verschiedentlich den "Engel des siebten Siegels" aus der Johannesoffenbarung dafür bemüht), Protagonisten sind vielmehr im Grundsatz alle Menschen, vorrangig gelehrte Mönche, aber auch Laien, Männer wie Frauen. Joachims Lehre bedeutete letztlich auch die Abschaffung der Hölle und des Teufels, die werden bei ihm nicht mehr benötigt.

Wie aber steht es um die Natur, um die menschliche Leiblichkeit, um Tiere und Pflanzen bei Joachim von Fiore? Josef Ratzinger hat Joachim in seiner Habilitationsschrift Schwärmertum vorgeworfen und dessen Lehre auch noch später in seiner Papstzeit als "spiritualistisch" und tendenziell "anarchistisch" kritisiert - etwa in seiner "Generalaudienz" vom 10. März 2010. Wie der ""neue Himmel" und die "neue Erde" des Johannes (GO 20,1) aussehen sollten, bleibt unklar bei Joachim. Bestimmt ist bei ihm lediglich, dass eine globalisierte Menschheit in unmittelbarem Kontakt mit dem Göttlichen ein erfülltes diesseitiges Leben führe. Bestimmt ist auch, dass die zweite Schöpfung kein Menschenwerk sei, aber der einsichtigen Bejahung durch die Menschheit bedürfe.

Fiores Einfluss auf die Geistphilosophie Hegels ist bekannt, blieb allerdings ohne substantielle inhaltliche Relevanz. Friedrich Engels bezieht sich in seinem Buch über den Bauernkrieg auf Joachim von Fiore, später Ernst Bloch in "Das Prinzip Hoffnung". Für den Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy war die russische Revolution ideologisch durch Joachim von Fiore inspiriert. Die immer wieder behaupteten Bezüge des Nationalsozialismus zu Fiores Konzeption vom "Dritten Reich des Geistes" - angeblich vermittelt durch Arthur Moeller van den Brucks Buch "Das Dritte Reich" von 1923 - lassen sich nicht belegen. Moeller erwähnt Joachim von Fiore mit keiner Silbe, bezieht sich allerdings gelegentlich auf Hegel. Im übrigen hat der Nationalsozialismus sich entschieden von Moellers Konzeption einer konservativen Revolution distanziert (vgl. André Schlüter 2010). Und die Prophezeiung eines Tausendjährigen Reiches stammt aus der Johannes-Offenbarung, 20. Kapitel (gelegentlich wird zur näheren Bestimmung auch auf Joh. 18,36 und andere Bibelstellen verwiesen, die allerdings keine Zeitdauer nennen).

Abbildung aus: Gioacchino da Fiore, Liber Figurarum



Der Sonnengesang des Franz von Assisi - "sustentamento" der "creature"
Der Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers in Assisi, mit bürgerlichem Namen Giovanni Batista Bernardone (1181/82-1226), beschließt 1205 nach Jahren jugendlicher Ausschweifungen und zwei gescheiterten Versuchen, sich als Cavaliere im freiwilligen Kriegsdienst zu bewähren, sein Leben Gott zu widmen. Seine Zeit und sein politisch-soziales Umfeld waren zweifellos religiösen Ausnahmepersönlichkeiten besonders gewogen. Das 11. und vor allem dann das 12. Jahrhundert hatten intensive monastische Reformen erlebt, Zisterzienser, Prämonstratenser und Augustiner-Chorherren formierten sich im Kontext bestehender Gemeinschaften. Dazu kamen neue Gründungen wie die des Bettelordens der Karmeliten um das Jahr 1150, in Südfrankreich breiteten sich die Katharer aus und die Kreuzzugsideologie des 11. Jahrhunderts war noch virulent. Ende des 12. Jahrhunderts hatte Joachim von Fiore seine Vorstellung vom kommenden dritten Reich des Heiligen Geistes entwickelt, 1215 wurde der Orden der Dominikaner zur Missionierung der Katharergebiete gegründet. In Assisi wurde 1193/94 die spätere Heilige Klara geboren und 1197/98 deren Schwester, die spätere Heilige Agnes.

Franz von Assisi wird heute gelegentlich als Vorläufer der Ökologiebewegung gefeiert. In Heft 3/2013 der Zeitschrift "natur" nennt Franz Alt anlässlich der Namenswahl des gerade neugewählten Papstes den Heiligen aus Assisi "Gottes grünen Krieger". "Der Heilige Franz war konsequenter Ökologe, überzeugter Pazifist, echter Tierfreund und radikal arm." Schon 1979 hatte Papst Johannes Paul II. Franziskus zum Schutzheiligen der Ökologie bestimmt. Das Bild vom "konsequenten Ökologen" kann sich auf ein einziges Zeugnis, den Sonnengesang des Franz von Assisi, stützen. Auch bei einer großzügigen Auslegung der Kategorie "Ökologe" fällt es schwer, der Auffassung Alts zu folgen. Die menschliche Interaktion mit der Natur wird im Sonnengesang mit keinem Wort angesprochen. Dass die Sonne, der Wind und das Feuer als "Bruder", Mond, Wasser und Erde als "Schwester" - jeweils dem grammatikalischen Geschlecht im Italienischen folgend - angesprochen werden, ist entschieden zu dünn für einen Ausweis eigenständiger ökologischer Ansätze. Nicht Tiere und Pflanzen werden hier als Geschwister angesprochen, sondern Sonne, Mond und die vier Elemente. Damit knüpft Franziskus an antike Traditionen an, die in der Astrologie und der Elementenlehre der Renaissance neu belebt wurden. Dass diese Traditionen zum historischen Erbe des modernen ökologischen Denkens gehören, sei indes unbestritten.

Franziskus schrieb seinen Gesang "Il Cantico delle Creature" oder "Cantico di Frate Sole" als er ab 1224 schwerkrank in einem Gebäude der Damianitinnen (später Klarissen) bei der Kirche San Damiano gepflegt wurde. Dies erklärt auch die dem Cantico strukturell fremde letzte Strophe, geschrieben kurz vor dem Tod, in der die "sora nostra morte corporale", der leibliche Tod als Schwester, angesprochen wird. Die im Titel genannten "Creature" sind nicht Objekte, sondern Subjekte des Cantico. Im ausgeführten Cantico erscheint dann aber nur der Mensch, noch enger das sprechende Individuum, subjekthaft. Die anderen Geschöpfe werden objekthaft mitgenannt, als Geschöpfe des "Signore", die dieser am Leben erhalte, wobei das gewählte Wort "sustentamento" durchaus die Qualität hat, dem Nachhaltigkeitsdiskurs als ein frühes Dokument zu dienen (das heute gebräuchliche italienische Wort für "Nachhaltigkeit" ist "sostenibilità") - es ist allerdings der "signore", der dieses "sustentamento" leistet, nicht der Mensch. Später werden "diversi fructi con coloriti flori et herba" genannt, die "sora nostra matre terra" ("unsere Schwester Mutter Erde") hervorbringe. Dass der Mensch irgendeine Verpflichtung diesen gegenüber habe, wird nicht einmal angedeutet.

Interessant ist der Sonnengesang als Dokument einer kurzzeitigen Offenheit des Christentums für naturmystische Traditionen, wie wir sie auch von Hildegard von Bingen kennen, die 100 Jahre vor Franz von Assisi gewirkt hatte. In seiner Allgemeinheit kann der Sonnengesang jedoch - anders als etwa der mehr als zweitausend Jahre ältere "Hymnus an die Erde" aus der Atharvaveda - nicht zur Begründung ökologischer Handlungskonzeptionen herhalten. Lediglich eine sehr diffuse "Bewahrung der Schöpfung" lässt sich ableiten. Die hagiographische Überlieferung (etwa die "Vogelpredigt" aus der Legenda Maior Sancti Francisci des Bonaventura) behauptet zwar, dass Franziskus auch ein besonderes Verhältnis zu Tieren und Pflanzen hegte. Doch nach den bestätigten Zeugnissen ging es ihm und seinen Mitbrüdern und Mitschwestern vorrangig um soziale Anliegen, Hilfe für die Armen und Kranken in der Nachfolge Christi, und um die Lehrarbeit für ein unmittelbar bevorstehendes Reich Gottes auf Erden.



Christianisierung des Bergbaus
Die auch gegenwärtig noch wirksame Trennung des Wissenschafts- und Bildungssystems im 19. Jahrhundert in zwei Bereiche, den der "exakten" und "wertneutralen" Naturwissenschaften und den der "wertorientierten" Kultur-/Geisteswissenschaften lässt uns noch immer etwas ratlos, wenn wir vor geschichtlichen Zeugnissen stehen, die solche Trennung nicht kennen oder akzeptieren, die vermengen, was wir gerne geschieden sähen - sofern nicht politische und/oder ethische Anliegen eine Zusammenführung bedingen.

Ein Beispiel für diese "Vermengung" zeigt sich in Leben und Werk des romantischen Dichters Novalis, der als Friedrich von Hardenberg auch Bergbauassessor an der Salinendirektion in Weißenfels war (der sein Vater als Direktor vorstand). Hardenberg hatte an der zu seiner Zeit berühmten Bergbau-Akademie in Freiberg/Erzgebirge studiert, wo kurz nach ihm auch Tulla, der Rheinbegradiger, einen Teil seiner Ausbildung absolvierte. Eines seiner bekanntesten Gedichte trägt den Titel "Maria" und verweist uns über seine vordergründige Dimension einer romantischen (im gemeinsprachlichen wie im literaturhistorischen Sinne) Marienverehrung hinaus auf die heute nur noch wenig bekannte Begründung des modernen Bergbaus durch die mittelalterliche Machtentfaltung des Christentums, die dem Bergbau die Gottesmutter als Schutzpatronin insbesondere des Silberbergbaus bereit stellte. Insbesondere in seinem Entwicklungsroman "Heinrich von Ofterdingen" entfaltet Novalis eine erstaunliche Verquickung von Bergbau, Religiosität, Liebeskult und Identitätsbildung. Wie der Bergbau im Umkreis von Romantik und Deutschem Idealismus die Metaphern für die Ausbildung des modernen Bürgertums bereitstellte, zeigt in beispielhafter Weise der Brief Caroline von Schlegels vom Oktober 1800 an ihren Geliebten und späteren Ehemann Friedrich Wilhelm Schelling: "Sieh nur Goethen viel und schließe ihm die Schätze deines Innern auf. Fördre die herrlichen Erze ans Licht die so spröde sind zu Tage zu kommen."

Hartmut Böhme hat, im Anschluss an Georg Schreiber, Udo Krolzik und andere, darauf aufmerksam gemacht, wie lange vor Novalis, bereits im lateinischen Mönchtum, insbesondere bei den Benediktinern und weitergeführt dann bei den Zisterziensern, ineins manuelle Arbeit vom Makel der Leibeigenentätigkeit befreit und die Nutzung der Naturressourcen als menschliche Fortsetzung des Schöpfungsprozesses begriffen wird. In diesem Kontext kam dem Bergbau eine besonders prägnante Rolle zu, wobei sich insbesondere Zisterzienserklöster im 12. und 13. Jahrhundert hervortaten, im Erzgebirge, in der Eifel, im Harz und andernorts. Nicht nur Pflanzen und Tiere, wie alttestamentarisch zugesagt, auch die verborgenen Schätze des Planeten, Grundwasser, Kohle und Erze, stünden zur Verfügung des Gottesebenbildes, so die Botschaft der christlichen Klostergründungen im Gefolge des Heiligen Benedikt. Es ist bemerkenswert, dass Novalis seine zentrale Figur, Heinrich von Ofterdingen, dem legendenhaften "Sängerkrieg auf der Wartburg" entnimmt, der um das Jahr 1200 angesetzt wird, in der Blütezeit des mittelalterlichen Bergbaus mit seiner christlichen Begründungsideologie.

Böhme verweist allerdings auch auf eine charakteristische Ambivalenz in der Konzeption eines gottgewollten und gottgefälligen Bergbaus. "Der Gedanke der Mitarbeit an der Vollendung der Natur verbindet sich eigenartig mit der Auffassung der Natur als Fremde und Feindin: sie spiegelt in der physischen Abhängigkeit des Menschen ständig seinen Sündencharakter." (Böhme 1988, S. 69) Erst der Sündenfall hat es notwendig gemacht, dass der Mensch der verborgenen Schätze bedürftig ist, er sich in einer feindseligen Naturumgebung behaupten muss. In diesem Behauptungskampf stehen ihm Heilige als Unterstützer zur Seite. Dabei wurden drei christliche Frauenfiguren zu besonderen Schutzheiligen des Bergbaus im christlichen Mittelalter, die heilige Barbara (wegen des Bezugs von Bergbau und Feuer), die heilige Anna (als Erzmacherin, Rohstoff-"Mutter") und die Gottesmutter Maria (insbesondere dem Silberbergbau zugeordnet, als christliche Wendung der "Terra Mater"). Sie traten an die Stelle der vorchristlichen Besetzung des Bergbaus mit keltischen, germanischen, slawischen und römischen Kulten und Gottheiten im mitteleuropäischen Bergwesens. 

Lektüreempfehlung: Hartmut Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt (Main) 1988




Petrarca und die förderliche Natur
Petrarcas Naturverhältnis ist heute bedeutsam vor allem durch seine Besteigung des Mont Ventoux (1.912 m) in der Provence, am 26. April 1336, gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Gherardo und einigen Bediensteten. Für den Kunsthistoriker Jacob Burckhardt zeigt sich Petrarca gerade in dieser Bergtour als "einer der frühsten völlig modernen Menschen" (Burckhardt 2009, S. 279). Von Alpinisten wird Petrarca gar gerne als Ahnherr des Bergsteigens gepriesen. Andere feiern den Mont Ventoux dieser Wanderung wegen als den Geburtsort des Humanismus, so etwa der holländische Historiker Enne Koops 2014 auf der angesehenen Online-Plattform "Historiek".

Petrarca berichtet von seinem epochemachenden Abenteuer in einem Brief an den älteren Freund Francesco Diogini vom 26.04.1336, verbunden mit zahlreichen theologischen, historischen, philosophischen und psychologischen Reminiszenzen und Reflexionen. Als Begründung für sein Vorhaben nennt er zu Beginn des Briefes "die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen". Der Berg habe ihn seit seiner Kindheit begleitet und seit Jahren schon habe ihn dieses Vorhaben beschäftigt. Natur erscheint in seinem Bericht als wild und herausfordernd, jedoch keinesfalls als bedrohlich. Vor den - eher bescheidenen - Bedrohungen durch spitze Felsen und Dornengestrüpp warnt lediglich ein "uralter Hirte", doch Petrarca und sein Bruder ignorieren diese Warnungen und der Briefautor berichtet dann lediglich von den körperlichen Strapazen, von seiner Erschöpfung bisweilen, der er sich im Blick auf das erhoffte Ziel mehr oder weniger murrend aussetzt.

Darin liegt das eigentliche Novum dieser Erfahrung: Selbstüberwindung nicht auf der Ebene der Affekte, sondern körperlicher Erschöpfung gegenüber. Und dies nicht primär zur moralischen Läuterung (auch wenn Petrarca seine Erfahrung in dieser Richtung umzudeuten sucht durch Verweise auf Bibelstellen und auf Augustinus), sondern mit dem Ziel einer ästhetisch konnotierten Naturerfahrung. Insofern hat schon Recht, wer in Petrarca einen Ahnherrn des Bergwanderns sieht. Aber "Bergwandern" steht dann für etwas anderes, nämlich die Abkehr von einem Kasteiungsprinzip, das den Körper zu überwinden, zu bestrafen, gar zu negieren sucht, hin zu einem Prinzip der Steigerung körperlicher Leistungsfähigkeit - Ertüchtigung statt Kasteiung, um Naturgenuss zu ermöglichen.    

Petrarcas Leben und Werk sind jedoch nicht nur über die Besteigung des Mont Ventoux, sondern auf vielfältige Weise und durchgängig gezeichnet durch eine dezidierte Zuwendung zur Natur als Rückzugsort, als Trost- und Erholungsort, als Projektionsfläche für innere Seelenprozesse, als historischer Vergegenwärtigungsraum - und nicht zuletzt als Utopie einer vollständigen Existenz. Es mag irritieren, aber der von Petrarca skizzierte Humanismus trägt deutlich naturreligiöse Züge und konfrontiert uns mit einem ersten konsistenten Entwurf einer  zivilisationskritischen Zuwendung zur Natur. Deutlich wird dies etwa in den Preisungen des einfachen Lebens "auf dem Lande", mit denen Petrarca seinen Rückzug an den Quellort der Sorgue zwischen 1337 und 1353 begründet. "De vita solitaria" liest sich streckenweise wie ein Text der Lebensreformbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Tongeschirr statt Silber empfiehlt Petrarca hier, einfache Speisen statt üppiger Gelage. Und er fordert ein "Leben in der Gegenwart" statt in steter "Hoffnung auf die Zukunft", die er als Grundübel ansieht. Daher wende er der Stadt Avignon mit ihrer Hektik und der besinnungslosen Gier ihrer Eliten nach Geld, Macht und Luxus den Rücken zu, um sich im Tal der Sorgue niederzulassen.  "Von der Schönheit des Ortes eingenommen, zog ich mich mit meinen Büchern dorthin zurück" heißt es in seinem "Brief an die Nachwelt" von 1370/71. Dahinter stehen unterschiedliche Traditionslinien und Einflüsse, vor allem der Preis eines einfachen Lebens in der spätantiken Philosophie einerseits, die autarke christlich-mönchische Lebensführung der Reformorden andererseits.

Der weitgehend eigenständige Beitrag Petrarcas liegt darin, einen neuen Blick auf die Natur mit diesen Motiven zu verbinden. Und zwar einen durchaus pragmatischen, der mit dem Sonnengesang des Franz von Assisi wenig gemeinsam hat. In einem seiner letzten Zeugnisse aus dem Alterssitz in Arquà am Rande der Colli Euganei schreibt Petrarca, er habe nun mehr Interesse an den Kräutern seines Gartens als an seinen Schriften.

Wir müssen Abschied nehmen von der schlichten Annahme eines Dreischritts in der menschlichen Naturbeziehung, wonach der Mensch zunächst im Einklang mit der Natur gelebt habe, sich dann mit dem zivilisatorischen Fortschritt der Natur entfremdete um sich schließlich in der Gegenwart wieder über ökologische Konzepte, Naturethik und Nachhaltigkeitsdiskurs mit der Natur zu versöhnen - auch in Reaktion auf die Schattenseiten der Industrialisierung. Der Mythos vom edlen Wilden im Natureinklang hat schon länger an Kraft verloren, doch weiterhin sind wir mehrheitlich in fortgeschrittenen Industriegesellschaften der Überzeugung, die Industrialisierung sei auch eine Reaktion auf eine als feindlich erfahrene Natur (Krankheiten, Hungersnöte, Naturkatastrophen) und ökologisches Denken letztlich ein Überschußphänomen entwickelter Industriegesellschaften. Petrarca zeigt uns, dass ein positives Naturverhältnis bereits an der Wiege des Humanismus steht. Warum es aufgegeben wurde, können vielleicht die Florentiner Handels- und Bankenmanager beantworten - ihren Geschäften war es sicherlich nicht förderlich.

Interessant ist auch Petrarcas Umgang mit den entsetzlichen Pesterfahrungen 1348 und in den folgenden Jahren. In "Ad se ipsum" und in Briefen an Freunde spricht er vordergründig und in der religiösen Rhetorik der Zeit von einer Strafe Gottes, ohne einen Strafgrund zu benennen (er fragt gar, weshalb so oft, wenn Strafgründe vorlägen, von Gott nicht gestraft werde) oder sich in den üblichen Ermahnungen zu ergehen. Vielmehr macht er deutlich, dass er die menschliche Ohnmacht der Pest gegenüber eher auf das Versagen der scholastischen Medizin und astrologiegläubiger Ärzte als auf göttlichen Ratschluss zurückführt. Eine "grausame Natur" als Schuldige gibt es bei Petrarca nicht.



Das Gericht der Götter über den Bergbau
Der böhmische Humanist Paulus Niavis (i.e. Paul Schneevogel - um 1460-1517) verfasste um 1492/95 in Zittau sein "Iudicium Iovis", ein auch heute noch lesenswertes Dokument der kritischen Auseinandersetzung mit der Ökonomisierung von Natur, konkret mit dem Bergbau. Die deutsche Übersetzung durch Paul Krenkel, "Das Gericht der Götter über den Bergbau", macht deutlich, worum es geht. Publiziert wurde die Übersetzung 1953 durch die Bergbau-Akademie Freiberg.

In der Rahmenhandlung wandert ein Eremit durchs Erzgebirge, seiner Silbervorkommen wegen im 15. Jahrhundert Ort eines großen "Berggeschreys", das zu Goldrausch-ähnlichen Verhältnissen führte, mit erheblichen Schädigungen für Luft, Boden, Wasser, Menschen, Tiere und Pflanzen. Das beim Silberabbau eingesetzte Quecksilber vergiftete die Umwelt und die Bevölkerung der Region auf Generationen hinaus. Der Mönch nun schaut in einer Vision ("mirabilis visio") eine erstaunliche Gerichtsverhandlung, die den "sterblichen Menschen" anklagt wegen seiner Vergehen am Schneeberg und andernorts durch die Anlage von Bergwerken, der Tatvorwurf lautet: "Muttermord" (matricidius).
Annaberger
                    Bergaltar, Hans Hesse, um 1521
Vor dem Thron Jupiters als Richter tritt als Klägerin die Mutter Erde ("Terra Mater") auf, anwaltlich vertreten durch Merkur. Zeugen der Anklage sind (in der Reihenfolge ihres Auftritts) Bacchus, Ceres, Minerva, Pluton, eine Najade, Charon und eine Gruppe von Faunen. Bemerkenswert, wie Schneevogel hier griechische und römische Götter/Göttinnen/Nymphen neben- und miteinander agieren lässt. Der Unterschied zwischen griechischer und römischer Antike auch in der Götterwelt war den Humanisten natürlich bewußt. Worum es hier geht ist die gemeinsame Frontstellung der Antike gegen die anbrechende Neuzeit, genauer: gegen konkrete Missstände in dieser Neuzeit.

"Terra Mater" trägt ein zerfetztes Gewand, ihr Leib ist "durchbohrt, verwundet und blutüberströmt" (Niavis 1953, S. 16) - die Leidensgeschichte Christi klingt unüberhörbar an. Die von Merkur und den anderen Gottheiten und Geistern vorgetragene Anklage bezieht sich insbesondere auf das Abpumpen unterirdischer Wasservorkommen, das Wein- und Ackerbau schädige, die Umleitung von Gewässern, die Verlärmung der Landschaft durch die Belüftungspumpen, Waldzerstörung durch Abholzungen und Köhlerei. "Terra Mater" werde dadurch im Innersten geschädigt. Eine ähnliche, wenngleich weniger drastische Kritik am Bergbau finden wir bereits im "Hymnus an die Erde". Im Ton grundsätzlich übereinstimmend ist Manis (216-276/77) Auffassung vom Menschen als Zerstörer der Schöpfung im Dienste der bösen Gottheit Az.

Die Verteidigungsrede des Menschen, unterstützt durch die Penaten (römische Schutzgeister des Hauswesens), beklagt die "Mutter Erde" als "Stiefmutter", die dem Menschen ihre größten Schätze vorenthalten möchte (Niavis 1953, S. 20). Insbesondere wird vorgebracht, dass der Bergbau den Handel (durch Münzgeld) erleichtere, die menschliche Kultur (einschließlich der Religion) entwickle und Menschen auch in weniger fruchtbaren Landschaften das Überleben ermögliche. Mehrmals wird darauf hingewiesen, dass doch Jupiter den Menschen die Erde zu ihrem Nutzen übergeben habe und von ihnen erwarte, dass sie sich auf dem ganzen Planeten ausbreiten. Diese Passagen nehmen erkennbar Bezug auf die entsprechenen Stellen im 1. Buch Mose (vgl. Niavis 1953, S. 21). Also lange vor der Industrialisierung, lange vor der Reformation und auch noch vor René Descartes und Francis Bacon wird hier die Grundlage formuliert für jenes Verständnis von "Macht euch die Erde untertan", das heute als das moderne, aufgeklärte, technisch-industrielle Naturverhältnis beschrieben wird.

Jupiter überlässt den Urteilsspruch der Fortuna - als "Königin der Sterblichen". Fortuna erklärt, dass die Menschen nicht anders könnten, als sie tun, das sei ihre Bestimmung. Damit aber würden sie sich selbst zerstören, wobei sie - "was sehr gut ist" - gar nicht das Ausmaß der Gefahren erkennen, denen sie sich aussetzten durch ihr Werk (Niavis 1953, S. 38). Woran Niavis dabei dachte, ist uns nicht bekannt. Aber hingewiesen sei nur darauf, dass das im Silberbergbau massiv eingesetzte hochgiftige Quecksilber im Mittelalter noch als Heilmittel eingesetzt wurde.

Nebenbei bemerkenswert ist der Hinweis auf andere Bergbaugebiete im 15. Jahrundert ("in Sizilien, in Portugal, in Arabien, in dem zu den Alpen gehörigen Etschlande, in Böhmen und jetzt auch ... im Gebiet des Meißner Landes" - S. 16) sowie eine ermahnende Zitation des Prometheus-Mythos (S. 17). Anders als seinem Übersetzer war Niavis wohl auch noch bekannt, dass der Kaukasus ein bedeutendes Erzabbaugebiet der Antike war.


Abbildung: Annaberger Bergaltar, Hans Hesse, um 1521
Lektüreempfehlung: Paulus Niavis, Iudicium Iovis oder Das Gericht der Götter über den Bergbau, Berlin: Akademie-Verlag, 1953




"Natura naturans" und menschliches Glück
Baruch Spinoza (1632-1677) leistet mit seiner Formel "deus sive natura" einen erheblichen Beitrag zur Kulturgeschichte von Technik und Naturbeherrschung. Mit der Gleichsetzung "Gott=Natur" liefert er eine philosophische Begründung für einen rücksichtsvollen Umgang mit der Natur als Vergegenwärtigung Gottes. So führt dies etwa Ulrich Grober in "Die Entdeckung der Nachhaltigkeit" aus (Verlag Antje Kunstmann 2010). Grober stellt das "Modell Spinoza" neben das "Modell Descartes". Descartes schränke den Herrschaftsanspruch des Menschen ("nous rendre comme maistres & possesseurs de la Nature" - Descartes, Discours de la méthode, 1902, S. 63 - "Sixiesme Partie") nach Grober lediglich ein durch das erklärte Ziel seiner Philosophie, die "conseruation de la santé" (ebd.). Wobei Descartes dabei erkennbar nur die Gesundheit des Menschen meint, nicht auch eine "intakte Umwelt", wie Grober spekuliert (Grober 2010, S. 71). Spinoza dagegen habe, so Grober, dem Herrschaftsanspruch des Menschen über die Natur das theologische und philosophische Fundament entzogen. "Gegenüber Descartes' Inthronisierung des Menschen als Meister und Besitzer der Natur beharrt Spinoza darauf, dass der Mensch ebenfalls Teil der Natur sei." (Grober 2010, S. 73).

Spinozas "deus, seu natura" ist in der Tat als Gleichsetzung von ihm verstanden, wie die entsprechende Passage in seiner erst posthum veröffentlichten "Ethik" mit den Verbformen im Singular klar macht: "Ratio igitur, seu causa, cur Deus, seu Natura agit, & cur existit, una, eademque est." (Ethik, Teil IV, Vorwort, Reclam-Ausgabe 1977, S. 438). Die damit formulierte pantheistisch-naturalistische Position bedeutet allerdings keinesfalls blank eine Absage an menschliche Naturbeherrschungsansprüche, sowenig sie einem Löwen untersagt, andere Tiere aufzufressen. Sie blockiert zunächst nicht einmal die Möglichkeit, mit Verweis auf eine Gottesebenbildlichkeit des Menschen zu operieren. Denn warum sollte der Mensch nicht in Analogie nun zur Schöpfungskraft der Natur/Gottes tätig werden? Immerhin erwartet Spinoza vom Menschen, dass er die Einheit seines Geistes mit der Natur begreife ("Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes" - Einleitung, Absatz 13) - und damit zum Glück gelange.

Spinoza unterscheidet an der Natur im Anschluss an die scholastische Tradition im ersten Teil der "Ethica" die "natura naturans" von der "natura naturata" - beide zusammen machen Gott/die Natur aus. Die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung finden wir in den Aristoteles-Übersetzungen und Kommentaren von Averroës und Michael Scottus im 12. Jahrhundert. Die "natura naturans" wurde in der Scholastik verstanden als Schöpfergott und scharf getrennt von der "natura naturata", der Schöpfung mit den Geschöpfen. Spinoza hebt diese Unterscheidung auf. Damit schafft er ein System, innerhalb dessen alle menschliche Produktion letztlich Schöpfung Gottes ist und damit vollkommen. Realität und Vollkommenheit sind für Spinoza ein und das selbe, "per realitatem, & perfectionem idem intelligo" (Ethica Pars II, Definitiones VI). Alle menschlichen Fähigkeiten sind nichts weiter als Teil der "natura naturata", explizite gilt dies auch für den "intellectum" (Ethica Pars I, Propositio XXXI). Auch der Mensch kann also nicht selbst wahrhaft schöpferisch werden. Was Menschen zur Realität bringen, bringen sie zur Realität Gottes.

Daraus ergeben sich für den Naturumgang streng genommen fatale Konsequenzen. Auch Umweltgifte, CO2-Frachten und Atommüll gehören zunächst einmal zur Realität Gottes. Zumindest wenn wir mit Spinoza bei der "Ordine Geometrico" seiner Ethik bleiben wollen und nicht, gegen Spinoza, seinen Ansatz konventionell ethisch funktionalisieren zu einer Verpflichtung gegenüber der vorgegebenen, ohne menschliche Intervention vorhandenen göttlichen Natur. Dass Spinoza indes keine Sollensethik, sondern eine Strebensethik intendierte, haben Manfred Walther und andere herausgearbeitet. Und alle menschliche Arbeit habe sich, so Spinoza in der Einleitung zu seiner "Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes" Absatz 16, der Aufgabe menschlicher Vervollkommnung unterzuordnen. Diese Vervollkommnung setzt explizite keine materiellen Anliegen und Ziele. Auch in seiner Staatslehre formuliert Spinoza solche nicht, der Zweck des Staatslebens sei "Frieden und Sicherheit des Lebens" ("Abhandlung vom Staat", Kapitel 5, § 2).

"Je mehr ferner der Geist weiß, desto leichter kann er sich selbst leiten und sich Regeln setzen. Und je besser er die Ordnung der Natur erkennt, desto leichter kann er sich vor unnützen Dingen hüten." So Spinoza im Kapitel "Die Lehre von der intellectio" seiner "Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes", Absatz 40. Um Selbsterziehung ging es dem großen Denker, nicht um Naturbeherrschung im Äußeren - und auch nicht um eine "Bewahrung der Schöpfung" im heutigen Sinne. Die Selbsterziehung Spinozas hat im umgangssprachlichen Sinne sicherlich mit Beherrschung der - inneren - Natur zu tun, allerdings durch Verstehen und bewusstes Arbeiten gemäß den Gesetzmäßigkeiten der Natur. Wir Heutigen können daraus auch einen entsprechenden Umgang mit der äußeren Natur ableiten, allerdings keineswegs im Sinne haushälterischer Nachhaltigkeit oder frommer Rücksichtnahme - denn Spinoza sah den Menschen keineswegs in der Lage, der "ewigen Ordnung der gesamten Natur" gefährlich werden zu können oder auch nur nützlich zu sein (s. "Abhandlung vom Staat" §8). Aufgeklärt pragmatisch wäre ein aus Spinozas Denken ableitbarer Naturumgang etwa das, was der ökologische Landbau praktiziert, Schädlingsbekämpfung durch Nützlinge und Ähnliches. Seine Reflexionen auf die Bedingungen menschlicher Schwächen, die immer auch die - modern gesprochen - Frage nach den Interessen implizieren, sind darüber hinaus strukturell geeignet, unseren Naturumgang grundlegend zu erhellen.

Spinoza selbst hat solche Ableitungen nicht unternommen, er hatte auch wenig Veranlassung dazu, weder aus seinem Anliegen, noch aus seiner Zeit, die gerade erfolgreich mit Techne (Windmühlen u.a.) die Niederlande dem Meer abrang. Obgleich er selbst möglicherweise zum Opfer einer unkontrollierten Techne wurde: Seine tödlich verlaufende Lungenerkrankung könnte auf den Schleifstaub zurückzuführen sein, den er mit seinem Broterwerb als Linsenschleifer einatmete.

Und doch gibt es in der "Kurzen Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück" eine Passage, die zeigt, dass Spinoza sich der problematischen Dimensionen des menschlichen Naturumgangs durchaus bewußt war. Im 24. Kapitel, "Von Gottes Liebe zum Menschen" schreibt er "in Kürze" zu den menschlichen Gesetzen, dass diese übertreten werden können, da sie nicht notwendig auch "zum Glück der ganzen Natur" dienten, vielmehr "wohl zur Vernichtung vieler andrer Dinge" beitragen könnten (Absatz 5). Und dann nennt er im gleich folgenden Absatz 6 die Bienen und den Imker, der sie "unterhält und pflegt" als Beispiel für eine gelingende Austauschbeziehung zwischen Naturdingen und Mensch (den Spinoza auch als "Ding" bezeichnet in diesem Absatz), in der beide profitieren.

Zur Kenntnis nehmen müssen wir allerdings auch eine Passage aus der Ethica, die nicht so zimperlich mit bestimmten Naturgegebenheiten verfährt: "Ich bestreite (...) nicht, daß die Tiere Empfindungen haben, ich bestreite nur, daß es deshalb verboten sein soll, sie zu unserem Nutzen beliebig zu gebrauchen und sie so zu behandeln, wie es uns am besten paßt; da sie ja von Natur nicht mit uns übereinstimmen und ihre Affekte von den menschlichen Affekten von Natur verschieden sind". (Ethica IV, Lehrsatz 37, Anmerkung 1) Zu verstehen ist dies auch als Abgrenzung gegen das Vegetariertum, das unter verschiedenen religiösen Gruppierungen der Zeit in den Niederlanden, die 1648 ihre Unabhängigkeit vom katholischen Spanien gewonnen hatten, verbreitet war. Spinoza selbst stand den niederländischen Collegianten nahe, die auch enge Kontakte zu Quäkern hatten, die ab 1655 aus England in die Niederlande kamen. Spinozas "Kurze Abhandlung" zeigt teilweise große Nähe zum Gedankengut der Quäker, insbesondere in der Behandlung des Gleichwertigkeit aller Menschen (Sechstes Kapitel: Von Gottes Vorherbestimmung, Absatz 7).

Lektüreempfehlung: Michael Hampe/Robert Schnepf (Hrsg.). Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Berlin: Akademie Verlag, 2006 



William Penn - Neue Welt und Europa
Die frühe Einwanderung aus Europa nach Nordamerika hatte häufig religiöse Hintergründe, das ist bekannt. Insbesondere verließen protestantische Gruppierungen ihre Heimat, weil sie dort verfolgt wurden oder zumindest nicht die geeigneten Rahmenbedingungen fanden für ihre Vorstellungen einer konsequent religiösen Lebensführung. So kamen im 17. Jahrhundert vor allem aus England auch zahlreiche Quäker nach Amerika. Sie zeichneten sich aus durch die unbedingte Überzeugung der Gleichwertigkeit aller Menschen und eine Haltung der Gewaltfreiheit gegenüber Menschen und Tieren gleichermaßen. In England wurden sie bis zur Toleranzakte des englischen Parlaments von 1689 massiv verfolgt und zu Hunderten ermordet - und noch in den Jahrzehnten danach waren sie Diskriminierungen durch die Anglikanische Kirche ausgesetzt.

Willam Penn (1644-1718) war der einflussreichste Quäker seiner Zeit in England, Sohn eines der reichsten und mächtigsten Männer des Landes, des Admirals Sir William Penn sen., der über Landgüter in Irland mit jährlichen Einkünften im Äquivalent von mehreren hundertausend Euro verfügte. Penn sen. hatte Oliver Cromwell und das Parlament unterstützt bei der Rückeroberung Irlands, aber auch stets gute Kontakte zu den Royalisten gepflegt. Zum Ritter geschlagen wurde er 1658 von Henry Cromwell, Sohn von Oliver Cromwell. Sein Sohn William widmete sich nach einem Studium der protestantischen Theologie in Paris (wobei ihm ein Empfang bei Ludwig XIV. gewährt wurde) und einem Jurastudium in London der familiären Güterverwaltung und schloss sich in den 1660er Jahren der Quäkerbewegung ("Religious Society of Friends") an. Rasch wurde er zu einem wichtigen Sprecher und Propagandisten der Bewegung. In den 1670er Jahren reiste er auch nach Holland und Deutschland (u.a. Heidelberg), um ein Quäker-Netzwerk innerhalb Europas zu knüpfen.

Pennsilvania, eine der ersten nordamerikanischen Kolonien, wurde 1681 von William Penn gegründet in einem Gebiet, das König Karl II. von England ("Merry Charles") als Ausgleich für eine Geldschuld bei William Penn sen. der Familie Penn überließ. Der Koloniegründer schloß 1682 einen nur mündlich überlieferten Friedensvertrag mit den Delaware-Indianern, die in diesem Gebiet lebten. Ein Vertrag, der in der Folgezeit idealisiert wurde als "Great Treaty" und von Voltaire in einem Brief (Vierter Brief über die Quäker) gepriesen als einziger Vertrag zwischen Indianern ("ces peuples") und Christen "der nie geschworen und nie gebrochen" ("qui n'ait point été juré et qui n'ait point été rompu") worden sei - mythologisch überhöht zunächst in den Bildern von Edward Hicks, dann im berühmten Gemälde von Benjamin West 1771/72, beauftragt von Penns Sohn Thomas.

Es ist nicht eindeutig geklärt, ob dieser Vertrag nur eine Art Präambel zu zwei schriftlich überlieferten, am 23. rsp. 25. Juni 1683 unterzeichneten Verträgen zwischen Penn und dem Delaware-Häuptling Tamanend über Delaware-Land darstellte. Als Gegenleistung für die Landüberlassung vermerkt der Vertrag vom 23. Juni "ye Consideration of so much Wampum, so many Guns, Shoes, Stockings, Looking-glasses, Blankets and other goods as he, ye sd William Penn shall please to give unto me".

Die Friedensgarantie hielt weitgehend bis zur Forderung der Familie Penn, vertreten durch Penns Sohn Thomas Penn, an die Delaware, ein Gebiet von 4860 Quadratkilometer Fläche zu räumen, das die Familie als Besitz reklamierte und Siedlern übergeben wollte, von Ray Thompson 1973 scharf als "Walking Purchase Hoax of 1737" kritisiert. Im Gefolge kam es im Hinterland gelegentlich zu Übergriffen auf Siedler, kulminierend im "Penn's Creek Massacre" von 1755, bei welchem Delaware-Indianer 24 Siedler töteten. Das Massaker stand auch im Zusammenhang mit dem Siebenjährigen Krieg 1754-1763, in welchem Frankreich und Großbritannien um die koloniale Vorherrschaft in Nordamerika kämpften.

William Penn selbst lebte nie für längere Zeit in Pennsylvania, sondern blieb mit seiner Familie in England, auf den väterlichen Besitztümern. Er warb allerdings nachdrücklich, auch in Deutschland, um Siedler für seine Kolonie. Seinen Aufrufen folgten neben Quäkern auch Mitglieder anderer protestantischer Gemeinschaften vor allem aus England und Deutschland. Bekannt wurden insbesondere die Mährischen Brüder, die sich allerdings erst nach Penns Tod 1735 in Pennsilvania ansiedelten und bald erfolgreich unter Indianern missionierten ("mährische Indianer"). 1782 kam es am Ende des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zum Gnadenhütten-Massaker durch eine Einheit der Pennsylvania-Miliz an 96 christlichen Indianern (28 Männer, 29 Frauen, 39 Kinder).

In Auseinandersetzung mit der Expansionspolitik Ludwigs des XIV. in Schottland und Irland ("Jacobite Uprising") und im sogenannten Pfälzer Erbfolgekrieg (Zerstörung des Heidelberger Schlosses 1689 und Sprengung 1693) schrieb Penn 1693 seinen republikanisch gesinnten "Essay Towards the Present and Future Peace of Europe by the Establishment of a European Parliament". Damit markiert Penn eine Vision von Europa als Friedensmacht, die dezidiert religiös fundiert ist, aber auch die naturrechtlichen Diskussionen der Zeit aufgreift. In den Schriften Penns finden sich auch bemerkenswerte Passagen zu einem Frieden mit der Natur, so etwa im Kapitel "Education" seiner Schrift "Some Fruits of Solitude, in Reflections and Maxims relating to the Conduct of Human Life - nebenbei so etwas wie eine erste Skizze zu Rousseaus "Emile". Unter den Punkten 12 bis 14 ist dort zu lesen:
12. And it would go a great way to caution and direct people in their use of the world, that they were better studied and knowing in the creation of it.
13. For how could men find the conscience to abuse it, while they should see the great Creator look them in the face, in all and every part thereof?
14. Therefore ignorance makes them insensible; and to that insensibility may be ascribed their hard usage of several parts of this noble creation, that has the stamp and voice of a DEITY every where, and in every thing, to the observing.
Und über den Sinn des Umgangs mit der Natur schreibt Penn - und wir hören auch hier bereits Rousseausche Konzepte anklingen - unter "A Country Life":
220. The country life is to be preferred; for there we see the works of God; but in cities, little else but the works of men: and the one makes a better subject for our contemplation than the other.
 
Lektüreempfehlung: William Penn, Selected Works, Vol. II, London 1825, Rep. New York: Kraus Reprint, 1971 - darin: "Some Fruits of Solitude"





Schlaraffenland
Im Jahr 1694 veröffentlichte der bedeutendste deutschsprachige Kartograph der Barockzeit, der Jurist und Verleger Johann Baptist Homann, die Karte des "Schlarraffenlandes". Zeitgleich erschien eine "Erklärung der Wunder-seltzamen Land-Charten UTOPIAE, so da ist / das neu-entdeckte Schlarraffenland", verfasst von Johann Andreas Schnebelin. Das gemeinsame Projekt von Schnebelin und Homann gestaltet die satirische Verortung menschlicher Laster in einer Topographie des Schreckens, belegt mit dem bis dato von Thomas Morus bis Francis Bacon positiv besetzten Begriff der "Utopie". Wobei allerdings nicht übersehen werden sollte, dass auch Thomas Morus bereits satirische Elemente in seinen Roman einschleußt - ob aus eigener kritischer Überzeugung oder um politischen Gegnern keine Angriffsfläche zu bieten, bleibt dahingestellt.

Im Vorwort benennt Schnebelin seinen Hauptgegner: den allgemeinen "Freß- oder Sauff-Discurs" für dessen Lebensstil "ansehnliche Leute" eine klare Formel haben: "Es gehet allda zu / wie in dem Schlarraffenland". Und er bekennt, sein Vorwort abschließend, "daß ich in Erfindung dieses Wercks einzig und allein dahin gezielet habe / wie ich denen Lastern spotten / und für denenselben einem jeden einen Greuel und Eckel verursachen möge" (Schnebelin 2004, S. 15).
 

Pieter Bruegel der Ältere, Schlaraffenland, 1567 Zwei Züge bestimmen den Text. Einmal die Tendenz, den Begriff "Utopie" dem politisch-gesellschaftlichen Reformdiskurs zu entziehen. Zum zweiten ein unüberhörbarer pädagogisch-moralischer Anspruch. Mit der Begriffsgeschichte von "Utopie" setzt der Autor sich kenntnisreich gleich im ersten Kapitel, "Von dem Namen Utopia und Schlarraffenland", auseinander. Er erklärt offen, dass er den Namen "Utopia" für ein gänzlich anderes "Concept" verwende als etwa Thomas Morus. Und mit lindem Spott distanziert er sich auch von einem Autor, Alberico Gentili, der "Utopia" ähnlich wie er negativ verwende, dabei allerdings eigene politisch-religiöse Interessen vertrete, indem er "das Acumen seines Ingenii an einem oder anderen loco seines Tractätleins wider die Anfechter seiner Protestantischen Religion etwas zu viel geschärffet / und den Stachel seiner Spitzfindigkeit / sonderlich dem geistigen Stand seiner Widersacher / hat empfinden lassen." Der moralische Anspruch wird etwa deutlich im Kapitel über das "Chymische Irrland", wo die Goldmacher am Werke sind. "Irrland" heiße dieses Land "damit ein jeden zu verständigen / wie weit die jenigen irr gehen / welche ihre Gedancken nach einem irdischen Reichthum / so mehr den Seelen schädlich denn nutzlich ist / eintzig und allein richten / die / unter dem Schein viel guts zu würcken / von dem Satan betrogen werden". Damit möchte der Autor "allen Religionen unpartheyisch" sein - und wir dürfen ergänzen: auch allen politischen Richtungen, was in der Barockzeit ohnedies weitgehend korrespondierte. Seine "Utopia" verhöhne "allein die Laster (...) welche alle vernünfftige Welt hasset" (Schnebelin 2004, S. 23).

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war der Dreißigjährige Krieg offenkundig weitgehend vergessen, die Kameralistik hatte die Schatullen der Fürsten wieder gefüllt, ein verschwenderischer Lebensstil prägte nicht nur das höfische Leben, sondern auch wohlhabendes Bürgertum und Teile der Bauernschaft, die nach dem Bevölkerungsverlust im Gefolge des Krieges über größere Ländereien als zuvor verfügen konnten - allerdings auch dem Zugriff der Fürsten ausgesetzt war. Die Landschaft in Mitteleuropa war ausgeräumt wie in keiner Epoche zuvor, Wälder, sofern sie noch existierten, dienten als feudale Jagdreviere oder Rohstofflieferanten für Bauvorhaben und Hüttenwesen. Diese Landschaft bot sich geradezu an, mit einer neuen Topographie gefüllt zu werden. Als Produkt der barocken Lachkultur war diese Topographie keineswegs so unpolitisch, wie sie auf den ersten Blick daherkommt. "Je unpolitischer sich die barocke Satire nach außen hin gab, desto unverhohlener übte sie Kritik an der Zivilgesellschaft." So führt Franz Reitinger in seinem ausführlichen Nachwort zu Schnebelin 2004, S. 281 aus.

Das letzte Reich ist das der Verschwender, die dem Schlaraffenland seinen Untergang bereiten. Dabei geht es allerdings nur um die Verschwendung von Geld und Gütern. Die Verschwendung von Naturressourcen wird nicht thematisiert. Wenn zu Beginn des Verschwender-Kapitels von Wald die Rede ist, dann bleiben die Implikationen unklar: "Von grossen Gehöltzen oder Wäldern ist in diesen verschwendischen Landen / ausser dem Weltbekannten Wald / das Kerbholtz genannt / weiters keines zu ersehen" (Schnebelin 2004, S. 185f). In das redensartliche Kerbholz werden Schuldenstände eingekerbt. Andere Wälder gebe es nicht. Das ist zu wenig, um daraus schon einen Hinweis auf eine Holznot durch fehlende Ressourcenschonung zu lesen. Es folgt eine Beschreibung der Nachbarländer, des Jugendlandes, des Greisenlandes, des unbekannten heiligen Landes und des höllischen Reiches. Den Abschluss des ganzen Werkes bildet ein Vanitas-Gedicht mit der Conclusio: "Dein Hertz im Himmel sey Der alle Lust veracht / Ist der Gefahren frey." (Schnebelin 2004, S. 225)

Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieb es dann bei der negativen Besetzung der Utopie des Schlaraffenlandes, im 19. Jahrhundert neu geprägt durch Ludwig Bechsteins Märchensammlung und die Sammlung der Gebrüder Grimm. Eine Verschiebung in der Bewertung erfolgte erst im Kontext des "Wirtschaftswunders" der Nachkriegszeit. 1995 erschien eine Sonderausgabe des "Environmental History Newsletter" mit dem Titel "Der Aufbruch ins Schlaraffenland. Stellen die Fünfziger Jahre eine Epochenschwelle im Mensch-Umwelt-Verhältnis dar?" Darin geht es um die "Entwicklung zur Verschwendungsgesellschaft". Es ist am Leitfaden der Beschreibung des "neu-entdeckte(n) Schlarraffenlandes" anzunehmen, dass auch die Zeit um 1700 eine "Verschwendungsgesellschaft" kannte, die der Autor kritisiert.

Abbildung: Pieter Bruegel der Ältere, Schlaraffenland, 1567
Lektüreempfehlung: Johann Andreas Schnebelin, Erklärung der Wunder-seltzamen Land-Charten UTOPIAE, Bad Langensalza: Verlag Rockstuhl, 2004




Carl von Carlowitz und die forstliche Nachhaltigkeit
Einen ersten relevanten Ansatz zum Nachhaltigkeitskonzept finden wir im Hymnus an die Erde der Atharvaveda, Entstehungszeit zwischen 1.200 und 800 v. Chr.. Dort heißt es im 35. Vers: "Was ich von dir, o Erde, ausgrabe, das soll schnell zuheilen. Laß mich, o Reinigende, nicht deine empfindliche Stelle, nicht dein Herz durchbohren!" Reduziert auf den sachlichen Kern ist das hier Vorgetragenen entschieden näher an dem, was wir heute avanciert unter "starker Nachhaltigkeit" verstehen, als die Ausführungen des sächsischen Forstkameralisten Carl von Carlowitz 2500 Jahre später, in seiner "Sylvicultura oeconomica" von 1713, die ihn für den Nachhaltigkeitsdiskurs der Medien zum "Erfinder" der Nachhaltigkeit macht. Carlowitz konnte sich auf Vorabeiten schon in der sächsischen Forstwirtschaft sowie in der englischen und französischen Forstökonomie stützen, die er auf seiner "Cavalierstour" 1665-1669 kennengelernt hatte. Carlowitz sorgte sich dabei nicht um ökologische oder naturschützende Problemstellungen, sondern lediglich um den Holzvorrat. Er empfahl gar - aus heutiger Sicht extrem nicht-nachhaltig - den Gebrauch von Torf als Grundstoff für die Köhlereien, um den Nutzungsdruck vom Wald zu nehmen. Und dass die Bergwerke, denen er vorstand, nicht nur den Wald bedrohten, sondern Gewässer, Luft und Boden insgesamt, und damit auch massiv die Gesundheit der ansässigen Bevölkerung - war nicht sein Thema.

Carlowitz wollte nicht mehr Wald schlagen, als nachwuchs. Er empfahl eine Forstbewirtschaftung, die auf gezielte Aufforstung, aber auch auf Naturverjüngung setzt. Das Anliegen des Oberberghauptmanns war, "dem allenthalben und insgemein einreissenden Grossen Holtz-Mangel (...) zu prospiciren" im Interesse "nothdürfftiger Versorgung des Hauß- Bau- Brau- Berg- und Schmeltz-Wesens". Was heute nachhaltige Waldwirtschaft heißt, nannte er dabei "immerwährende Holtz-Nutzung" oder "nachhaltende Nutzung". Es bleibt unbestritten, dass nach aktueller Datenlage Carlowitz zum ersten Mal den Begriff "nachhaltig" (rsp. "nachhaltend") in einem dem heute dominierenden ökonomischen Verständnis von Ressourcenschutz nahestehenden Sinn verwendete. In der Sache hatte er allerdings zahlreiche Vorgänger in der Forstwirtschaft der Barockzeit. Peter Poschlod schreibt in seiner überaus informativen "Geschichte der Kulturlandschaft" 2014, S. 194: "So gilt das 16. Jahrhundert als der Beginn des Zeitalters der Forstordnungen." Und Poschlod macht auch deutlich, dass "forestis" ursprünglich dem Königsrecht zugehörte und die Verfügung über Landschaft insgesamt, insbesondere die Wald-, Wild- und Fischnutzung, bedeutete. Was der forstlichen Nachhaltigkeitsidee einen feudalen Beiton in die Wiege legt.

Das Putten- und Schäferwesen der Barockkultur sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der offenen Landschaft und den Naturbeständen in dieser Zeit heftig zugesetzt wurde - insbesondere durch den Bergbau und das Hüttenwesen, etwa zur Finanzierung ausschweifender Hofhaltungen, aber auch durch die höfische Jagd. "Nachhaltigkeit" war in diesem Kontext (der heutigen Situation durchaus ähnlich) ein Überlebensgebot für die Eliten, kein Umweltschutzunternehmen im Interesse bedrohter Tier- und Pflanzenarten. Was Carlowitz erhalten sollte und wollte, war nur vordergründig der Wald - es ging im Kern um die sächsischen Silberbergwerke, deren Fortbestand zum einen durch den spanischen Silberabbau in Südamerika, insbesondere in Potosí/Bolivien, zum anderen durch Holzmangel ernsthaft bedroht war. Wie weit Carlowitz in seiner konkreten Forstplanung über die ökonomische Notwendigkeit hinaus ging, ist nicht bekannt. Überliefert sind lediglich aus seiner "Sylvicultura oeconomica" zwei ästhetisch-religiös konnotierte Äußerungen, wonach Bäume mit der "innerlichen Form, Signatur, Constellation des Himmels" verbunden seien und "die grüne Farbe von denen Blättern" unsagbar ("ist nicht zu sagen") "angenehm" sei.

Was heute unter den Prämissen von Klimaerwärmung und CO2-Einsparung im Blick auf eine nachhaltige Waldnutzung propagiert wird (kürzere Umtriebszeiten, kompensatorische Aufforstungen, Durchlichtung, Forcierung der Brennstoffnutzung) hat weit mehr Parallelen im Forstmanagement der Sowjetunion unter Stalin als im spätbarocken Forstwesen unter Carlowitz. Eine Studie des "KlimaCampus" der Universität Hamburg von 2010 kommt zum Ergebnis, dass nur eine straffe Planwirtschaft mit engem Sortenmanagement, kurzen Umtriebszeiten und regelmäßiger Durchforstung den deutschen Wald fit machen könne für das Jahr 2100. Das alternative Modell einer naturprozessnahen Bewirtschaftung mit langer Lebensdauer der Bäume und reicher Biodiversität kann vor dem analytisch-kameralistischen Blick des "KlimaCampus" nicht bestehen.

Auch wenn es überzogen ist, der Forstwirtschaft die "Erfindung" der Nachhaltigkeit zuzuschreiben, so kommt ihr doch sicherlich das Verdienst zu, das kameralistische Prinzip des "verbrauche nicht mehr, als du erwirtschaftest" strukturell bedingt erstmals reflektiert auf ein menschliches Naturverhältnis übertragen zu haben. Allerdings gibt es bereits aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten Belege zu nachhaltiger Waldnutzung im Kontext des Bergbaus, aus der Region Munigua bei Sevilla (s. "Archäologie weltweit", Heft 1/2019, S. 30f). Und wer kritischen Blicks das Gilgamesch-Epos sichtet, kann dort die Klage finden
"wir machten den Wald zur Einöde" (s.o.).



Der Blütenpreis des Barthold Heinrich Brockes: "Den Schöpfer im Geschöpf zu preisen"
Das bekannteste Gedicht des Barthold Heinrich Brockes (1680-1747), "Kirsch-Blühte bey der Nacht", wurde 1727 erstmals veröffentlicht, im zweiten Band der neunbändigen Sammlung "Irdisches Vergnügen in Gott", erschienen 1721-1748. Der Sammlungstitel steht für ein barockes Programm, das in den Naturdingen emblematische Verweise auf eine transzendente Wirklichkeit sah. Das Titelblatt konkretisiert den Inhalt als "bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten" - womit neben dem sittlich-moralischen Anspruch (allegorischer Naturbegriff) auch ein frühaufklärerisch-naturkundliches Anliegen (naturwissenschaftlicher Naturbegriff) formuliert wird.

Barthold Heinrich (auch Bertold Hinrich) Brockes steht am Übergang von der Barockzeit zur Aufklärung. Der Sohn eines vermögenden Hamburger Kaufmanns pflegte früh einen am Adel orientierten Lebensstil, nahm Unterricht in Tanzen, Fechten, Reiten und in französischer Sprache. 1700-1702 studierte er in Halle (Saale) Jura und Philosophie. Nach einigen Reisen widmete er sich, zurück in Hamburg, literarisch-philosophischen Studien und dem Schreiben. Ab 1720 war Brockes in verschiedenen politisch-administrativen Ämtern tätig, zunächst als Ratsherr und Senator Hamburgs, zuletzt als Erster Landherr von Hamm und Horn. Als Autor hat er einerseits noch Teil an der "memento mori"- und "Vanitas"-Rhetorik des Barock und dessen idyllisierender Naturkonzeption, andererseits an einem analytisch-deskriptiven Blick auf Naturphänomene, wie er dann das 18. Jahrhundert prägen sollte.

"Kirsch-Blühte bey der Nacht" wird dominiert von der "moralischen" Dimension. Die Schönheit und "Weiße" der Kirschblüte wird überboten von der "Weiße" eines Sterns und in dieser Linie wird Gott selbst evoziert. Vorausgegangen ist in der Sammlung der Text "Blühende Pfirsiche und Aprikosen", es folgt "Noch einige Betrachtungen der Blühte". Beide Gedichte entfalten am Beispiel verschiedener Nutzpflanzen eine äußerst detaillierte phänologische Analyse der Blatt- und Blütenknospen und ihrer Entwicklung. Auch erste Hinweise auf den Stoffwechsel der Pflanze werden bereits formuliert. Der theologisch-moralische Gehalt wird in der berühmten Wendung "Den Schöpfer im Geschöpf zu preisen" (in "Noch einige Betrachtungen der Blühte") angesprochen.

Die drei Texte entfalten in verschiedenen Anläufen ein Naturbild, das in der Forschung als "pantheistisch" charakterisiert wird. In unserem Kontext ist vor allem relevant, dass Brockes hier einen ästhetisch-theologisch begründeten Eigenwert der Natur konstatiert und dies im Kontext des menschlichen Nutzens (im Vordergrund stehen Nutzpflanze, Obstgehölze).



"Verdi prati, selve amene, perderete la beltà" - Händels "Alcina" und die Entzauberung der Natur 
Ruggiero, der im Zaubernetz Alcinas gebannte Held in Georg Friedrich Händels 1735 erstmals aufgeführter Oper "Alcina", wird durch die Liebe seiner Partnerin Bradamante frei gemacht von seiner Verstrickung. Die Versöhnung der beiden Liebenden mündet am Ende des 2. Aktes in die große Arie "Verdi prati" des Ruggiero, eine Sarabande.

Verdi prati, selve amene,
perderete la beltà.
Vaghi fior, correnti rivi,
la vaghezza, la bellezza,
presto in voi si cangerà.
Verdi prati, selve amene,
perderete la beltà.
E cangiato il vago oggetto,
all'orror del primo aspetto
tutto in voi ritornerà.

Was hier geschieht, ist eine eigenartige Verkehrung dessen, was in der höfischen Kultur der Barockzeit für das Verhältnis Liebe-Natur galt. Liebe war dort verbunden mit dem "locus amoenus" (vgl. "selve amene"), dem zauberhaften Platz, einem idyllischen Paradiesgarten, mit Blumen, Düften, formenreichen Pflanzengestalten - gebannte, dem Menschen zugerichtete, inszenierte Wildnis. Und nun kommt ein Liebender, der gerade befreit wurde aus den Fängen einer amor fou, der zurückgefunden hat zu seiner Geliebten, und singt nach der versöhnenden Umarmung: "Ihr grünen Wiesen, ihr lieblichen Wälder, ihr verliert nun eure Schönheit."
Vordergründig nimmt Ruggiero hier nur Abschied von einer Insel, deren Naturschönheiten er als Teil eines Gespinstes aus Lug und Trug durchschaut. Doch Jan Assmann hat schon darauf hingewiesen, dass diese Arie von äußerster Schlichtheit sei und zugleich in der von Händel stets in besonders bedeutsamem Kontext eingesetzten Tonart E-Dur verfasst. Dies verweist uns auf einen Gehalt, der tiefer geht. Der "orror del primo aspetto" thematisiert in der Tat mehr als nur die Aufklärung Ruggieros. Aufgeklärt wird hier über den im Barock kulturell geleugneten schöpferischen Eigenwert der Natur, der auch den "orror del primo aspetto" einer Wüstenei hervorbringen kann.

Hier wird Abschied genommen vom höfischen Naturbild der Barockzeit, welche parallel zur immensen Naturzerstörung durch die Jagdleidenschaft der Fürsten und den Aufstieg des Hüttenwesens kokette Schäferidyllen pflegte und Natur inszenierte als Schauplatz für Tändelei. Händels Freund und Kollege Georg Philipp Telemann hatte in Magdeburg einen ansehnlichen Zierpflanzengarten, den er auch durch Händel beliefern ließ. "(W)enn man mir die Wahrheit sagt, so werden Sie die besten Pflanzen von ganz England erhalten" schrieb dieser aus London in einem Brief von 1750 an den Freund. Der Garten wird nun nicht mehr in den Dienst der höfischen Verführung gestellt, sondern ist Teil bürgerlicher Emanzipation. Ruggieros Arie steht auch an der Wiege einer neuen Gartenkultur, die unter anderem den "Englischen Garten" hervorbrachte. Alcina wurde entmachtet und der "orror del primo aspetto" der Natur zeigt den Weg zu einer neuen Form des Naturumgangs, verkürzt zumeist auf die Formel gebracht "naturwissenschaftlicher Naturbegriff".

Eine ganz andere Deutung erinnert daran, dass die Blumen und Tiere der Insel, die "verdi pradi" und "selve amene" ursprünglich Männer waren, die an Alcinas Insel Schiffbruch erlitten. Der "orror del primo aspetto" könnte also auch die Männergesellschaft der Seefahrer, oft Soldaten auf Kriegsfahrt, sein. Bradamante wurde schließlich auch begleitet von Melisso, der Ruggiero für einen neuen Kriegszug benötigte! Und natürlich wäre auch etwas zu sagen zum "Morgenland"-Bild der Zeit, war Alcina doch eine "morgenländische Zauberin".



Das Erdbeben von Lissabon und die unerschütterliche Aufklärung
Am Morgen des 1. November 1755, während der Gottesdienste zum Fest Allerheiligen, zerstörte ein Erdbeben der Stärke 9 Lissabon. Viele Einwohner flüchteten sich zum Hafen, dem größten gebäudefreien Platz der Stadt. Doch dem Beben folgten Flutwellen von bis zu 15 Metern Höhe, die über die Mündung des Tejo in den Hafen und die Stadt eindrangen. Zahlreiche Nachbeben und eine mehrere Tage andauernde Feuersbrunst brachten weitere Zerstörungen. Die Feuersbrunst wurde durch verlassene Herdfeuer und umgestürzte Kerzen in den festlich erhellten Kirchen ausgelöst. Zwischen 60.000 und 100.000 Einwohner starben in der Katastrophe und 85% des Gebäudebestandes wurden zerstört. Das Beben war in weiten Teilen Europas deutlich zu spüren, unter anderem wurde von ungewöhnlichen Wellen im Hamburger Hafen berichtet.

Das Erdbeben gilt als Menetekel der Aufklärung, vergleichbar dem Untergang der Titanic 1912 in seiner Bedeutung für das Industriezeitalter. Zum 250. Jahrestag titelte die NZZ: "Lissabon 1755 - das Erdbeben, das die Welt veränderte". Und Jürgen Wilke fasst in einem Beitrag für das Online-Magazin EGO vom 18.12.2014 die allgemeine Einschätzung wie folgt zusammen: "Vielmehr beeinflusste das Ereignis das europäische Denken nachhaltig und untergrub den philosophischen Optimismus der Aufklärung, den Glauben an die göttliche Vorsehung und die Überzeugung, in der besten aller möglichen Welten zu leben."

Doch so wenig der Untergang der Titanic über die Produktion erbaulicher und ermahnender Traktate und seine Verwendung als technologiekritisches Symbol hinaus einen relevanten Einfluss auf die gesellschaftliche und technologische Weiterentwicklung hatte, so wenig konnte das Erdbeben von Lissabon die Läufe seiner Zeit entscheidend beeinflussen. Weder wurde die spanische und portugiesische Kolonisation Mittel- und Südamerikas gestoppt oder auch nur gemäßigt, noch verlor die Aufklärung ihren Zukunftsoptimismus. Ganz im Gegenteil wurde der Wiederaufbau Lissabons zu einem Triumph des neuen Geistes, das mittelalterliche Lissabon verschwand und machte einer modernen Metropole Platz. Manager der Katastrophe war Sebastián José Carvalho e Melo, später ernannt zum Marques de Pombal, der innerhalb eines Jahres die Trümmer beseitigen ließ und den Neuaufbau inszenierte. Im Zuge seiner Tätigkeit wurde er auch zum Begründer der modernen Seismologie.

Als Argumentationshilfe in den intellektuellen Debatten der Zeit wurde das Erdbeben allerdings intensiv eingesetzt. So nutzte Voltaire das Ereignis um gegen die Konjunktur der Leibnizschen "prästabilierten Harmonie" anzugehen. Dass er hierzu auch anderes Material zur Verfügung hatte, nicht auf das Erdbeben angewiesen war, zeigt sein "Candide" von 1758, in welchem das Erdbeben zwar vorkommt, aber eine eher untergeordnete Bedeutung einnimmt im unmittelbaren Kontrast mit den Leidensgeschichten Kunigundens und "der Alten" - mit Leiden nicht an zufälligen Naturereignissen, sondern an menschlicher Bosheit.



Die Abschaffung des Unfalls im Deutschen Idealismus
Martina Heßler nennt das umfassende Vertrauen hochindustrialisierter Gesellschaften in die technische Lösung aller menschheitlich relevanten Probleme in ihrer "Kulturgeschichte der Technik" von 2012 im Anschluss an Günther Anders das "Paradigma des reibungslosen Ablaufs" (S. 188). Zu diesem Paradigma gehören sowohl die Ausblendung technischer Versagensmöglichkeiten wie auch die Ausblendung des Faktors Mensch. Der Faktor Mensch wird dabei nicht nur in den Unfallursachen, sondern auch in den Unfallkonsequenzen weitreichend ignoriert. Soziale Folgekrisen sind nicht ernstlich vorgesehen in den gängigen Konzepten zur Unfallbewältigung. Hysterien, Plünderungen oder religiöse, ethnische, soziale Aufladungen von Krisen im Gefolge technischer Katastropen werden - entgegen der Faktizität aktueller Ereignisse - für zunehmend unwahrscheinlicher gehalten, da sie durch technische und soziale Weiterentwicklung handhabbar seien (Heßler 2012, S. 180ff).

Einen reibungslosen Ablauf insbesondere im Naturgeschehen verspricht in den monotheistischen Religionen die Konzeption des allwissenden, allmächtigen Gottes. Judentum, Christentum und Islam haben sich entsprechend abgearbeitet an der Frage nach der Theodizee, man denke etwa an die Debatten nach dem Erdbeben von Lissabon 1755. Verweise auf menschliche Schuld, auf den Sündenfall, auf die Präsenz des Bösen in der Schöpfung waren insbesondere mit der christlichen Auffassung eines treu sorgenden, gnädigen, verzeihenden Gottes schwer vermittelbar. Papst Benedikt XVI. stellte die Theodizee-Frage am 28. Mai 2006 bei seinem Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz erneut für die Gegenwart, und er bezog sich dabei neben Auschwitz auch auf die Katastrophe in Fukushima.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling formuliert in seiner Freiheitsschrift von 1809 - mit Fragezeichen versehen - die Auffassung, dass die Tätigkeit des Menschen "selbst mit zum Leben Gottes gehöre". Naturgeschichte als Entwicklungsgeschichte des Geistes führe über den Menschen zur Aufhebung der Natur in Geist, in der bekannten Schellingschen Formulierung zum Ende seiner Einleitung in die "Ideen zu einer Philosophie der Natur" von 1797 : "Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sei, auflösen." In einem Brief an Eberhard Friedrich von Georgii Ostern 1811 schreibt Schelling von der "Überzeugung einer wirklichen Einheit Gottes und der Natur", "kraft der sie (die Natur - H.Sch.) nicht blos als ein Fehlerhaftes oder Hervorgebrachtes, sondern auf eine eigentlichere und persönlichere Weise zu ihm (Gott - H.Sch.) gehört". Diese Überzeugung sei "der wahre Vollendungspunct menschlicher Wissenschaft". "Natur" wird dabei nicht sehr präzise bestimmt, von Spinoza her denkt Schelling sie weitgehend als "natura naturans", doch im "Hervorgebrachten" steckt natürlich auch die "natura naturata". Zum Verhältnis der beiden gibt Schelling einen anfänglichen Aufschluss in einem Fragment aus dem Nachlass, wo er als "das Ziel aller Sehnsucht das vollkommen Leibliche als Abglanz des vollkommen Geistigen" benennt. Die dahinter stehende Problematik im neuzeitlichen Subjekt-Welt-Verhältnis ist die von Zufall und Zweckmäßigkeit, wie sie Reiner Wiehl in seiner Erörterung des Verhältnisses von Kant zu Spinoza herausarbeitet (Manfred Walter, Spinoza und der deutsche Idealismus, 1991, S. 15ff).

Wir haben bei Schelling eine erstmals philosophisch stringent ausgearbeitete Variante der Auffassung von der Mitwirkung des Menschen am Schöpfungswerk vor uns, wie sie in den Sintflut-Mythen bereits anklingt und dann im Christentum entfaltet wird durch die Mönchsbewegung des Mittelalters. Theoretisch fassbar wird diese Auffassung zunächst im Renaissancehumanismus. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz umreißt in "Die zweite Schöpfung der Welt" 1994 die Stellung des Menschen für die Renaissance wie folgt: Er sei "die Vollendung der unvollendeten Schöpfung und in erster Linie seiner selbst" (S. 51). Gerl-Falkovitz unterscheidet dabei nicht in die Konzepte "entwicklungsoffene Fortsetzung der Schöpfung", "Vollendung der Schöpfung" und "Zweite Schöpfung".

Bei Schelling (wie ähnlich auch bei Hegel) finden wir einen naturgeschichtlichen Abschlussgedanken formuliert, der uns heute - nicht zuletzt durch Darwin und seine Nachfolger belehrt - fremd ist. Doch vor seinem Hintergrund wird deutlich, auf welch dürftigem Reflexionsniveau das Vertrauen in technische Problemlösungen, das letztlich an kulturgeschichtlich geprägten Abschlusskonzepten wie denen des Deutschen Idealismus parasitiert, angesiedelt ist.
 

Lektüreempfehlung: Martina Heßler, Kulturgeschichte der Technik, Campus 2012




Träume vom Friedensreich
Der Quäkerprediger und Kunstmaler Edward Hicks (1780-1849) gestaltete das Motiv des "Peaceable Kingdom" - mit Bezug auf das 11. und das 65. Kapitel des biblischen Buches Jesaja - zwischen 1816 und 1849 wiederholte Male. Erhalten sind 62 Varianten (wobei die Zuschreibung der ersten Realisierung von 1816/18, der erst 1822 weitere folgten, umstritten ist). Rechts Edward Hicks Peaceable Kingdom - Ausschnittim Vordergrund ist stets Hicks Deutung von Jesaja 11,6-8 zu sehen, das friedliche Zusammenleben von Raubtieren und Weidetieren, mit einem oder mehreren Kindern. Dabei ist der Bezug zu Konflikten innerhalb der Quäkergemeinschaft/Society of Friends offenkundig. Die Raubtiere Wolf, Leopard, Bär und Löwe stehen für die vier Temperamente und für bestimmte Neigungen, die nach Hicks Auffassung das Zusammenleben der Quäker beeinträchtigten, insbesondere die Geldgier, die dem Bären (Phlegmatiker) zugeordnet wird von Hicks, auch in seinen überlieferten Vorträgen und Schriften. Geldverleih und Zinsgeschäfte betrachtete Hicks als die ernsthafteste innere Bedrohung des Quäkertums. Dies korrespondiert mit der existentiellen Bedeutung, die diese Bereiche für das Siedlungswesen hatten. Schon die Gründung Pennsylvanias verdankte sich einem Kapitalgeschäft der Familie Penn, und die Quäkerbewegung selbst war eng mit Kapitalgeschäften verbunden, so sind etwa Barclays, Lloyds und Friends Provident/Friends Life Quäker-Gründungen.

Im Hintergrund zeigt Hicks die Landschaft von Pennsylvania. Auf fast allen Bildern ist in dieser Landschaft eine Gruppe von Menschen zu sehen, zumeist in einer Darstellung des Vertragsabschlusses zwischen William Penn und den Delaware 1682/83. 1829/30, nach der Spaltung der Quäker in Pennsylvania 1827 in Hickianer (Hicksites - orientiert an Elias Hicks, Cousin des Malers, mit einer Betonung der eigenen inneren Christuserfahrung) und Orthodoxen (Schriftorientierung), malte Hicks einige Bilder mit einer Gruppe von Quäkern links im Mittelgrund auf dem bildhaft dargestellten "Weg zum Licht", mit einem Schriftband, auf welchem zentral "Peace on Earth" zu lesen ist. Wie er in seinen "Memoires of the life and religious labors of Edward Hicks" (publiziert 1851) ausführt, sah Hicks in William Penns Begründung von Pennsylvania das "golden age of the best government under heaven" angebrochen (Hicks 1851, S. 228).
 
Für die Quäker waren Indianer gleichberechtigte Menschen, nicht einem feindlichen Tierreich näherstehende Wilde, wie für den Großteil der sonstigen europäischen Siedler. Grundsätzlich betrachteten die Quäker den "äußeren" Menschen als integrierten Teil des Tierreiches. Auch was den "inneren" Menschen, seine Verbindung mit Gott im "inneren Licht", betrifft, gab es unter den frühen, an Erfahrung und Empfinden orientierten Quäkern, verbreitet die Auffassung, dass ihn dies nicht wesentlich von Tieren unterscheide, dass auch Tiere mit dem "inneren Licht" begabt seien. Unterdrückerische Herrschaftsausübung war den frühen Quäkern grundsätzlich suspekt, dies galt auch für das Verhältnis Tieren gegenüber. "In general, the Society opposed oppression, including abuse of animals." (Weekley 1999, S. 64) Diese Haltung und Auffassung dürfte den Duktus der Hickschen Bilder vom "Peaceable Kingdom" mit geprägt haben.

Geboren wurde Edward Hicks im östlichen Pennsylvania. Seine Eltern waren Mitglieder der Anglikanischen Kirche. Im Glauben der Quäker wurde er von seiner Ziehmutter erzogen, nachdem seine Mutter früh verstorben war. 1803 trat Hicks der Quäker-Gemeinschaft bei, seinen Lebensunterhalt bestritt er als Kutschen-Maler und mit sonstiger Schmuck- und Gebrauchsmalerei. Ab 1812 gab er die Malerei weitgehend auf und reiste als Prediger im Auftrag der Gemeinschaft durch das Gebiet von Philadelphia, allerdings führten ihn finanzielle Probleme bald wieder zurück zur Malerei.

Hicks malte seine Bilder vom "Peaceable Kingdom" zu einer Zeit, als in den drei Seminolenkriegen (1817-1858) der letzte organisierte indianische Widerstand brutal (auch von Militärangehörigen kritisiert) gebrochen wurde und im "Trail of Tears" 1838 die indianischen Stämme des nordamerikanischen Südostens umgesiedelt wurden in unfruchtbare Reservate. Im gleichen Jahr 1838 wurden auch die Indianer des Nordostens, darunter die Delaware, umgesiedelt. Während Hicks die Pennsche Utopie in Bildern propagierte, schrieb Henriette Frölich im fernen Berlin ihren sozialutopischen Roman "Virginia oder die Kolonie von Kentucky" (1819). Darin reist die Heldin in eine Quäkerkolonie. "Ich stimme den meisten ihrer Grundsätze und Einrichtungen mit inniger Überzeugung bei, kann aber durchaus nicht begreifen, warum der Geist der Fröhlichkeit damit unvereinbar sein sollte." (Frölich 1963, S. 129) Das Thema der Auswanderung nach Amerika beschäftigt auch Goethes Wilhelm Meister, dem im Roman allerdings heimatverbunden zugerufen wird "Hier oder nirgends ist Amerika".

Abbildung: Edward Hicks, Peaceable Kingdom, 1826, Ausschnitt
Lektüreempfehlung: Carolyn J. Weekley, The Kingdoms of Edward Hicks. New York: Abrams, 1999





Der Natur helfen auf ihrem Weg - die Rheinbegradigung durch Tulla 
Johann Gottfried Tullas Vater war Pfarrer, bei Tullas Geburt 1770 in Nöttingen (heute Ortsteil von Remchingen), später in Grötzingen, dann in Britzingen und schließlich in Rüppurr. Der Vater war offenkundig über seinen Pfarrdienst hinaus interessiert und engagiert. Er verfasste eine religionspädagogische Handreichung, eine Geschichte des markgräflichen Hauses Baden-Durlach sowie eine geographische Datensammlung Württembergs. Etwa zeitgleich entwickelten Theologiestudenten am Tübinger Stift den Idealismus Kants weiter, unter ihnen zwei Jahrgangsgenossen Tullas, Friedrich Hölderlin und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Von Tullas Vater war zunächst vorgesehen, dass auch Johann Gottfried Pastor werde - dessen außergewöhnlichen Schulleistungen in Mathematik und in den naturwissenschaftlichen Fächern bahnten dann aber einen anderen Bildungsweg, sonst hätten wir ihn vielleicht auch am Tübinger Stift gesehen. Während seiner Ausbildung verfehlte Tulla dann um eineinhalb Jahre die Begegnung mit dem Dichter und Philosophen Novalis (Friedrich von Hardenberg) in Freiberg, wo Tulla im Wintersemester 1794/95 und im Wintersemester 1795/96 Vorlesungen in Chemie und Mineralogie belegte. Novalis studierte an der Bergakademie  Freiberg ab dem Wintersemester 1797/98 Bergwesen, Chemie und Mathematik.

63 Jahre nach Voltaires "Il faut cultiver notre jardin" am Ende seines Schelmenromans "Candide" und 128 Jahre vor Stalins Großem Plan schreibt Tulla 1822 in seiner Denkschrift zur Rheinregulierung gleich zu Beginn den bemerkenswerten Satz "Es ist ein Gesetz der Natur, daß die Felsen verwittern, die steilen Abhänge sich verflächen und sanfter werden, die Land-Seen und Thalgründe ausgefüllt, die horizontalen Ebenen in abhängige Neigung gebracht und die Erdtheile und vegetabilischen Theile von den Höhen den tiefern Gegenden zugeführt und dadurch die Fruchtbarkeit immer erneuert werde." (Tulla 1822, S. 2) Landschaft als sanfter Garten, in harmonischer Gestaltung, erscheint so als eigentliches Ziel des Naturprozesses, das vom Wasserbauingenieur zu unterstützen sei durch "Rectificirung", Berichtigung - eine Position, die theoretisch-philosophisch im Deutschen Idealismus ausformuliert wurde mit der Aufhebung von Natur in Geist, insbesondere bei Hegel und Schelling. Tulla formuliert dieses Prinzip einmal sehr prägnant als "der Natur nachhelfend, durch Kunst" (Tulla 1822, S. 15).

Allerdings ist der Lobpreis einer gezähmten Natur weit älter. Das Christentum entwickelte insbesondere im benediktinischen und später im zisterziensischen Mönchstum die Vorstellung, der Mensch habe die Schöpfung weiter zu gestalten durch die Urbarmachung von Wildnis, konkret auch durch die Nutzung der Wasserkraft. So schildert die "Descriptio positionis seu sitationis monasterii Clarae-Vallensis" vom Beginn des 13. Jahrhunderts die Nutzung der Aube unter gleichsam bereitwilliger Mitwirkung des Flusses, "er bietet stets seine Hilfe an und verweigert sie nie. Zuletzt, um vollen Dank zu ernten und nichts ungetan zu lassen, trägt er den Abfall fort und lässt alles sauber zurück".

Das oft zitierte Ende von Voltaires "Candide" gilt als prägnanter Ausdruck für den RückzugRheinbegradigung durch Tulla seiner Helden aus einer Welt von Gewalt, Egoismus und Niedertracht in die Überschaubarkeit und Harmonie eines tätigen Daseins im privaten Bereich. Etwa zeitgleich mit der Abfassung des "Candide" zog Voltaire selbst sich zurück auf seine Landgüter bei Genf und widmete sich dort dem Gartenbau und der Landwirtschaft - schrieb allerdings auch weiterhin literarische, philosophische und historische Texte, empfing Besucher aus der ganzen Welt, korrespondierte und mischte sich unermüdlich politisch ein. Stalins "Plan zur Umgestaltung der Natur/Plan preobrasowanija prirody" will die gesamte Landschaft den Prinzipien des Gartenbaus unterwerfen. Der "Candide" als Dokument eines schier rousseauistisch (bei aller Feindschaft, die Voltaire dem leibhaftigen Rousseau und seinen Theorien entgegenbrachte) anmutenden Rückzugs in den eigenen Garten, Stalins Großer Plan als Programm der Verwandlung eines ganzen Landes nach dem Modell des Nutzgartens, mit gleichmäßigen Parcellen, schützenden Wald-Hecken und geregelter Bewässerung: Sie haben in Tullas Denkschrift ihre Bindefuge.

Tulla bietet zunächst bemerkenswerte Aussagen zum Verhältnis Landschaft-Klima, die erhellen, wie intensiv das 19. Jahrhundert sich mit Klimafragen beschäftigte. So schreibt er: "Die Gebirge und die Ebenen, die Waldungen, die Quellen, Bäche, Flüsse, Ströme und Seen, die Sümpfe und die Steppen, modificiren das Clima, und es kann dieses in ein und dem selben Land wärmer und trockener, oder kälter und feuchter werden, nach der Verschiedenheit der Cultivirung." (Tulla 1822, S. 1) "Eine zu große Verminderung der Waldungen im Ganzen, oder auch nur in einzelnen Distrikten, wird und muß immer nachtheilige Folgen für das Clima und die Fruchtbarkeit haben." (Tulla 1822, S. 3f) Nicht ganz 50 Jahre später warnt Victor Hehn dagegen: "Man überschätze auch nicht den Einfluß der Wälder auf das Klima" (Victor Hehn, "Kulturpflanzen und Hausthiere", 1870, S. 6).

Mit Nachdruck verweist Tulla auch auf die Funktion von Überschwemmungen (die sein Begradigungswerk künftig gerade verhindern sollte) für die Fruchtbarkeit eines Landes (Tulla 1822, S. 2). Ausführlich beschreibt er die Funktion der Wälder an Flüssen und Bächen für den Schutz gegen Erosion und Hochwasser (Tulla 1822, S. 3) So lesen sich die ersten Seiten der Tullaschen Denkschrift geradezu wie ein Plädoyer dafür, den Fluß und seine Auwälder weitgehend zu erhalten im Bestand. Eingriffe sollten nicht nur die Schiffbarkeit und die Entwässerung berücksichtigen, sondern, in heutigen Worten gesprochen, die nachhaltige Entwicklung einer Region fördern: "Eine planmäßige Forstkultur und Entwässerungs- und Bewässerungs-Einrichtung (...) sind die Grundlagen zur Erhaltung der Fruchtbarkeit eines Landes." (Tulla 1822, S. 4) Dies wird noch konkretisiert, insbesondere mit einer klaren Absage an den Privatbesitz von Gewässern und Ufern. Dann kommt Tulla zum entscheidenden Satz seiner Denkschrift, der in seinem ersten Teilsatz (zur umfassenden Kanalisation der Fließgewässer) aus seinen vorangegangenen Ausführungen keineswegs abzuleiten ist: "In der Regel sollten in kultivierten Ländern, die Bäche, Flüsse und Ströme, - Kanäle - seyn, und die Leitung der Gewässer in der Gewalt der Bewohner stehen" - wobei er mit "Bewohner" die Öffentlichkeit meint, den Privatbesitz von Gewässern lehnt er ab (Tulla 1822, S. 7). Insbesondere die Kanalisation und Umleitung von Bächen und Flüssen zum Betrieb von Maschinen im Privatbesitz hält Tulla für schädlich (Tulla 1822, S. 6f). Er empfiehlt statt dessen den Einsatz von "Wind, Feuer und durch thierische Kräfte" (Tulla 1822, S. 6). Das mutet wie eine frühe Blaupause für Stalins Plan zur Umgestaltung der Natur an und ist in seiner Bedeutung nur angemessen zu erfassen vor dem Hintergrund der Zeit. Napoleons Code civil hatte 1804 das Privateigentum an Gewässern geregelt - das nach römischem Recht weitgehend ausgeschlossen war. Frankreich hatte zuvor durchaus in den Lauf des Rheines eingegriffen, allerdings von ganz oben. Ludwig XIV ordnete Trockenlegungen zur Landgewinnung im Elsaß an, die zu massiven Grenzverschiebungen hinein ins Badische führten.

In seinen Ausführungen zur Rheinbegradigung selbst erklärt Tulla dann, dass es Fehler im bisherigen Flussbettmanagement seien, Fehler im Anlegen der Dämme (mit der Folge einer Anhebung des Flussbettes und eines Absinkens des Hinterlandes) sowie im Anlegen von Siedlungen und Äckern (nämlich zu nahe am Fluss), die ihn nun zwängen, die Rheinkorrektur brachial auszuführen: "so bleibt nur ein wirksames Mittel übrig, die früheren Fehler zu verbessern und die nach und nach entstandenen Übel zu beseitigen, nemlich die möglichst gerade Leitung des Flusses, die Abschneidung seiner Nebenarme, die Demolirung der schädlichen Dämme u.s.w. also die Rectificirung des Flusses." (Tulla 1822, S. 40). Hier spricht nicht nur der Ingenieur, sondern auch der Aufklärer Tulla. Und mit Nachdruck kritisiert er die Missachtung natürlicher Prozesse bei Flusskorrekturen der Vergangenheit: "Die Nichtbeachtung dieser der Natur selbst abgewonnenen Maaßregeln, hat immer früher oder später traurige Folgen für die Uferbewohner" (Tulla 1822, S. 42). Tulla war keineswegs der bornierte Technokrat, als der er heute bisweilen dargestellt wird. Und nicht nur die technikbegeisterten Anhänger Tullas, auch seine naturschützenden Kritiker könnten von ihm lernen, was ein kooperativer Umgang mit der natürlichen Umwelt zu beachten hat.

Tulla starb 1828 an den Folgen einer Malariainfektion, die er sich bei seiner Arbeit am Rhein zugezogen hatte, in Paris.


Lektüreempfehlung: Johann Gottfried Tulla, Der Rhein von Basel bis Mannheim mit Begründung der Nothwendigkeit, diesen Strom zu regulieren. Denkschrift, Karlsruhe 1822




"Es war, als hätt' der Himmel" - Poetik des Kahlschlags
Wer kennt es nicht, das Eichendorff'sche Gedicht von der "Mondnacht", das beginnt mit den Zeilen "Es war, als hätt' der Himmel/Die Erde still geküsst". Gemeinsam mit dem Gedicht "Wünschelrute", das anhebt mit "Schläft ein Lied in allen Dingen,/Die da träumen fort und fort", gehört es zum Grundbestand romantischer Lyrik, steht es für eine Zeit, die noch, so will es das Klischee, im Einklang stand mit der Natur, ehe die technische Industrialisierung über Mitteleuropa hereingebrochen sei.



Von verwunschenen Schlössern und Waldesrauschen schrieb der Freiherr von Eichendorff, und verwunschen waren die Schlösser der Ahnen durchaus. Als der Vater 1818 starb, hinterließ er einen Berg Schulden und teils verwahrloste Güter. Das seit 1808 anstehende Konkursverfahren war aus politischen Gründen (Generalmoratorium wegen der Napoleon-Kriege) ausgesetzt worden bis 1817. Die Mutter verkaufte einen Teil des familiären Waldbesitzes zur Abholzung, um die Schulden zu bezahlen. Schloss Lubowitz aus dem Erbe der Mutter, in welchem Eichendorff geboren war, blieb der Familie zunächst erhalten. Dazu gehörte ein Gutsbetrieb mit Getreideanbau und Schafzucht. Die Kindheit Eichendorffs, das kann nicht genug betont werden, war geprägt durch ein landwirtschaftliches Umfeld, die Mutter finanzierte ein Gutteil des Familienbedarfs vor dem Tod des Vaters aus der Kuh-, Schweine- und Geflügelhaltung. Eichendorff hatte mit seinem Bruder Wilhelm noch versucht, diese Idylle seiner Kindheit zu erhalten. Doch nach dem Tod der Mutter 1822 wurde auch Lubowitz verkauft, eine traumatisierende Erfahrung für den 36jährigen Dichter. 13 Jahre später schreibt er die oben zitierten Gedichte.



Es fliegt - wenngleich im Konjunktiv - die Seele "nach Haus", als der Himmel die Erde küsst - gleichfalls im Konjunktiv. Zum "hieros gamos", der himmlischen Hochzeit der Frühzeit, rauschen leis die Wälder. Hegel prägte das Diktum vom Zerfall des antiken, von Hölderlin wiederbelebten, "heiligen Haines" in "Holz und Gemüt" (Erhard Schütz 2017, S. 342). Bei Eichendorff wird dies sinnhaft im Auseinanderfallen seiner familiär-privaten ökonomischen Wirklichkeit und seiner literarischen Produktion. Im Gedicht von 1837, "Der Jäger Abschied" heißt es "Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben?/Wohl den Meister will ich loben", und im Kehrreim nehmen die nur im Gedichttitel genannten "Jäger" wiederholt Abschied mit dem Satz "Lebe wohl/Lebe wohl, du schöner Wald!", ohne dass wir erfahren, wohin sie denn ziehen, die Jäger, wir können nur vermuten, in einen Kampf um Deutschland, denn die letzte Zeile ersetzt "Lebe wohl, du schöner Wald" durch "Schirm' dich Gott, du deutscher Wald". Wovor, vor dem Zugriff der Kapitalakkumulation, vor der Industrialisierung? In seiner Anfang 1849 entstandenen Satire auf die revolutionären Ereignisse von 1848, "Libertas und ihre Freier" wird der industrielle Kapitalismus in der Figur des zum Baron gewordenen Neureichen "Pinkus" verspottet, der in einem Schloss mitten im Wald gelegen eine Fabrik eingerichtet hat. Am Ende kommt die "Libertas" zum Schloss und erklärt "Ich wollte doch auch wieder einmal meine Heimat besuchen (...) die schönen Wälder, wo ich aufgewachsen. Da ist viel abgeholzt seitdem, das wächst sobald nicht wieder nach auf den kahlen Bergen."

Der Wald und seine Ökonomisierung ist auch Thema einer neun Jahre nach Eichendorff geborenen und ein Jahr vor ihm gestorbenen, doch traditionell schon einer anderen Literaturepoche zugesprochenen Dichterin. Annette von Droste-Hülshoff schildert in "Die Judenbuche" den Übergang des Waldes von der Subsistenz ländlicher Bevölkerung zum Spekulations- und Handelsobjekt - nicht nur für alte (adelige) und neue (bürgerliche) Grundbesitzer, sondern auch für professionelle Waldfrevler. Über die Rolle des Kahlschlags als Rettungsanker des verarmenden Adels im 19. Jahrhundert gibt es aus Russland den hervorragenden Tatsachenroman "Der russische Wald" von Leonid Leonow (russ. 1953, dt. 1960).



Erhard Schütz: Romantische Waldarbeit. In: Lillge, Claudia/Unger, Thorsten/Weyand, Björn (Hrsg.): Arbeit und Müßiggang in der Romantik, Wilhelm Fink-Verlag, 2017, S. 329-343




Alexander von Humboldt, der erste Naturschützer?
Alexander von Humboldt (1769-1859) wurde zwar ein halbes Jahr vor Tulla geboren, doch seine Hauptwerke entstanden erst nach dem Tod Tullas, er gehört intellektuell bereits einer anderen Generation an, steht für ein weiter entwickeltes Naturverständnis und eine Naturbeziehung, die unserem ökologischen Zeitgeist enger verbunden scheint als die Haltung Tullas. Sein 250. Geburtstag 2019 brachte ihm daher von der ZEIT-Redaktion auch das Prädikat "erster Naturschützer" ein, die WELT titelte "Der erste Öko". Und schon 2015 vertrat die Journalistin Andrea Wulf in ihrer vielbeachteten Humboldt-Biographie "Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur" (zuerst auf Englisch erschienen) die Auffassung, dass Humboldt die amerikanische Naturschutzbewegung entscheidend inspiriert habe.

In der Vorrede zu seinem "Kosmos" bekennt Humboldt 1844 gleich zu Beginn: "Was mir den Hauptantrieb gewährte, war das Bestreben, die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhang, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen." Es ist das Programm, dass wir noch vom zwanzig Jahre älteren Goethe kennen, nun aber deutlich untergeordnet dem "Hang nach der Kenntnis des einzelnen". Hier wird keine Urpflanze mehr gesucht, sondern die Fülle der Erscheinungen akribisch erfasst, um in der Natur selbst zu finden, was Deutscher Idealismus und Romantik im Geist, in der Moral, in der Phantasie, in der Kunstschöpfung gesucht und gefunden haben: "Die Natur aber ist das Reich der Freiheit" ("Einleitende Betrachtungen").

I
m V. Kapitel, "Naturbeschreibung. Naturgefühl nach Verschiedenheit der Zeiten und der Volksstämme", schreibt der Naturforscher von der "Verherrlichung der Gottheit aus ihren Werken" (wir kennen das schon von Spinoza, Brockes und vielen anderen) im Christentum, was sich in wertschätzenden Naturbeschreibungen widerspiegele. Wir dürfen hier auch eine Selbstbeschreibung Alexander von Humboldts herauslesen, ein Bekenntnis zur eigenen spinozistisch anmutenden Naturverherrlichung.

Wenn Michael Pilz am 29. Juli 2019 in einem Beitrag für die "Welt" den Autor des "Kosmos" launig als den "ersten Öko" charakterisiert, nennt er als Begründung den künstlerischen Zugriff Humboldts auf die Natur, die Zeichnungen, sowie sein ganzheitliches Naturverständnis. "Die Demut, die sich einstellt, wenn der künstlerische Wert der Schöpfung auf seinem Papier erscheint, macht Humboldt zu einem der ersten Ökologen und Naturschützer." Wie es scheint, kann Pilz sich dabei auf Humboldt beziehen, der im Kapitel VI über "Landschaftsmalerei in ihrem Einfluß auf die Belebung des Naturstudiums" ganz am Ende schreibt: "Der Begriff eines Naturganzen, das Gefühl der Einheit und des harmonischen Einklanges im Kosmos werden um so lebendiger unter den Menschen, als sich die Mittel vervielfältigen, die Gesamtheit der Naturerscheinungen zu anschaulichen Bildern zu gestalten." Eine Auffassung, die in der Gegenwart mit ihren umfänglichen "Mitteln" zur Vervielfältigung bedauerlich widerlegt wird.

Humboldt hat in Venezuela die Folgen von Abholzung und agrarischer Monokultur analysiert und vor langfristigen negativen Konsequenzen gewarnt. Er ist allerdings nie in Erscheinung getreten, wo es im 19. Jahrhundert in seiner Heimat Naturzerstörung und Umweltvergiftung gab - und die gab es mit der aufkommenden Verstädterung und Industrialisierung en masse. Belegt ist, dass er sich immer wieder gegen Sklavenhalterei ausgesprochen habe, was zumindest das ihm derzeit gleichfalls gerne angeheftete Prädikat "Menschenrechtler" begründet. Sicherlich hat Humboldt wichtige Vorarbeiten für den Naturschutz geleistet, indem er zur Abhängigkeit der Vegetation von ihrer Umwelt umfangreiches Material sicherte und analysierte, Lebensraumtypen wie "Steppe", "Heide", "Wald", "Wüste" und andere prägnant charakterisierte. Lange vor Haeckel habe Humboldt, so der Geograph Ernst Plewe in einem Vortrag 1969, die Ökologie als Wissenschaft begründet, "die Erde überhaupt neu sehen gelehrt, denn das grundsätzliche ökologische Problem ist bei allen Variationen im einzelnen doch überall dasselbe" (Plewe 1970, S. 19).

Das Prädikat "Naturschützer" sollte allerdings mit Fragezeichen versehen werden. Der Zoologe Matthias Glaubrecht kritisiert in einem Beitrag für den Tagesspiegel vom 28.12.2016 entschieden die von Andrea Wulf "seltsam unzeitgemäß" konzipierte Biografie, für die an Humboldt "alles bio, öko, global und nachhaltig sowieso" sei.



Adalbert Stifter und die Ökologie des Gartenbaus
Die "Vorrede" zu den "Bunten Steinen" Adalbert Stifters von 1852 beginnt mit dem Verweis auf eine Kritik Friedrich Hebbels, Stifters Figuren und Themen seien "unbedeutend". Stifter hält dem seine Gedanken zum "sanften Gesetz" entgegen, welches seine Dichtung ebenso bestimme wie es Natur als äußere Natur und als innere Natur des Menschen bestimme. Maßstab dieses Gesetzes sei die Erhaltung des Ganzen gegenüber den Anmaßungen des Individuums - und die Behauptung des Kleinen und scheinbar Unbedeutenden gegenüber den lauten Ansprüchen des Gewaltigen. Beispiele hierfür nimmt Stifter zunächst aus dem Naturbereich. Er setzt das "Rieseln des Wassers" dem "prächtig einherziehenden Gewitter" entgegen als das beständig Wirksame gegenüber dem vorübergehend Zerstörerischen.

Seine Naturbeispiele bereiten uns vor auf die Ausführungen zur menschlichen Gesellschaft, zur "sittlichen Geschichte der Menschheit":  "Wenn aber jemand jedes Ding unbedingt an sich reißt, was sein Wesen braucht, wenn er die Bedingungen des Daseins eines anderen zerstört, so ergrimmt etwas Höheres in uns, wir helfen dem Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder her, daß er ein Mensch neben dem andern bestehe, und seine menschliche Bahn gehen könne, und wenn wir das getan haben, so fühlen wir uns befriediget, wir fühlen uns noch viel höher und inniger als wir uns als Einzelne fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit." (Bunte Steine, München: Winkler 1951, S. 10)

Diesem "sanften Gesetz" Stifters hat als einer der ersten Thomas Mann misstraut: "Hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung ist eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam". Eines seiner stillsten und in der Naturbetrachtung genauesten Werke ist gewiss der "Nachsommer" (erstmals erschienen 1857). Hier erscheint als zentrales Bild das Rosenhaus des Freiherrn von Risach. In der Forschung gilt verbreitet das Urteil, im Rosenhaus finde sich das Ideal einer Synthese von Natur und Kultur symbolisch gestaltet. Doch unter dem Titel "Entfernte Natur: Rosenpracht und Kaktusblüte" verweist Jochen Berendes in seinen "Studien zum Werk Adalbert Stifters" von 2009 auf die Brüchigkeit dieser Symbolik und kommt zum Schluss, es verliere "die vermeintlich zentrale Rosensymbolik mit der beginnenden Liebesgeschichte ihre Koinzidenz mit den Handlungen des Protagonisten". Wie Berendes herausarbeitet, ist die Erfüllung der Liebesgeschichte begleitet von verblühenden Rosen; zur Hochzeit wird, mit gärtnerischer Manipulation und vom Protagonisten Heinrich distanziert aufgenommen, ein Felsenkaktus (Cereus peruvianus) zum Blühen gebracht. Die Rosenblüte beginnt erst nach der Hochzeit und wird - wie auch die Hochzeit selbst - von Heinrich als Störung charakterisiert. Die Rosenwand im "Nachsommer" birgt offenkundig die Nähe zum "Katastrophalen", die Thomas Mann bei Stifter diagnostiziert. Das wird deutlich in den Ausführungen Heinrichs zur Bedeutung der Rosenblüte für die Familienzusammenführung anlässlich der Hochzeit: "Mein Vater sollte sehen, welche Gewalt die Menge und die Mannigfaltigkeit auszuüben imstande ist, wenn diese Menge und Mannigfaltigkeit auch nur lauter Rosen sind."

Dieser "Gewalt" der Rosen und den Störungen durch Hochzeit und Rosenblüte gegenüber gestellt wird in einer der bemerkenswertesten Passagen des Werkes - ganz dem "sanften Gesetz" verpflichtet - die erste Begegnung der beiden "Väter" des Brautpaares vor der Hochzeit, die zunächst den Garten Risachs gemeinsam erkunden, dabei die Rosenwand nur kurz streifen, in einem längeren Disput jedoch etwas erörtern, das wir heute als biologischen Pflanzenschutz dem ökologischen Gartenbau zuordnen würden. Es geht um die Dezimierung von Schadraupen durch Vögel, wobei Risach keine völlige Vernichtung der Raupen als erstrebenswert ansieht, um den Vögeln ihre Nahrungsquelle zu erhalten und auch um sich an Faltern zu erfreuen. Ein Schaden am Obst durch die Vögel andererseits wird durch ihren Nutzen aufgewogen gesehen. Stifter schreibt dies wenige Jahre vor dem Aufkommen der ersten chemischen Pflanzenschutzmittel. Und er widmet dem Thema ein ganzes Kapitel seines Romans, das fünfte von siebzehn, überschrieben mit "Der Abschied".

"Der Abschied" thematisiert die Vorzüge des Landlebens gegenüber der städtischen Existenzform und entwirft eine grandiose Skizze des Gärtnerns, die an Motive Rousseaus wie Voltaires gleichermaßen erinnert. Und in diesem Kapitel begegnet Heinrich gleich zu Beginn erstmals dem Kakteenhaus Risachs, der Gärtner führt ihn dorthin, nicht Risach selbst. Risach erläutert Heinrich dann im Fortgang des Kapitels die Besonderheit seines gärtnerischen Ansatzes, der auf einer Zusammenarbeit mit der Natur basiert. Den dominierenden herrischen Umgang mit der Natur führt Risach auf "Schwäche und Eitelkeit des Menschen" zurück. Auf die Nachfrage Heinrichs, warum Risach denn die Rosenwand seines Hauses an einer Stelle aufgeführt habe, die von den natürlichen Gegebenheiten her ganz ungeeignet sei, antwortet Risach mit dem Verweis auf eine zu bewahrende persönliche Erinnerung. Und was Risach dann beschreibt, wie er die natürlichen Gegebenheiten verändert habe, etwa durch Austausch des Erdreichs oder den gezielten Eingriff in Luftströmungen, hat ganz erstaunliche Parallelen zum Gartenbau eines zeitgenössischen Österreichers, der bekannt wurde unter anderem durch die Pflanzung von Zitrusfrüchten in den Alpen, Sepp Holzer vom Krameterhof, ein maßgeblicher Vertreter der "Permakultur", eines Zweiges des ökologischen Landbaus.

Nach Werner Michler ist Natur "ohne Zweifel einer der Schlüsselbegriffe in Stifters Werk". In der Forschung unterscheide man vier verschiedene Naturkonzepte bei Adalbert Stifter, ein "mythisches", ein "romantisches", ein "christlich-metaphysisches" und ein "säkular-empiristisches". Avant la lettre dürfen wir durchaus auch erste Züge einer im modernen Sinne "ökologischen" Naturauffassung konstatieren. Im fernen Jena prägte Ernst Haeckel, wie Stifter vielseitig begabt und aktiv, bald nach der Veröffentlichung des "Nachsommers" den Begriff "Ökologie" für die "Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt".

Lektüreempfehlung: Werner Michler, Naturkonzepte. In: Christian Begemann/Davide Giuriato (Hrsg.), Stifter Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart: Metzler, 2017, S.246-249




Richard Wagners Alberich und die Sexualisierung der Natur
Die christliche Rechtfertigung des Bergbaus kippt im 19. Jahrhundert, zügig nach ihrer Übersteigerung bei Novalis, in eine krude Mischung aus Neuheidentum, Kapitalismuskritik und Antisemitismus, die in Wagners Opern ihren populärsten und bildstärksten Ausdruck fand. Die politisch orientierte Musikkritik sieht in Alberich, dem bergbauenden Gnom, der das Rheingold stiehlt, bei Wagner primär ein antisemitisches Klischee wirksam. Erstmals hat dies Alfred Einstein 1927 formuliert. Ausgearbeitet und einem weiteren Publikum bekannt wurde die Analyse durch Theodor W. Adorno, in seiner 1937/38 verfassten Schrift "Versuch über Wagner" (Kapitel I, "Sozialcharakter"). Und in der Tat gibt es erhebliche Parallelen zwischen Wagners Charakterisierung der Nibelungen und seinen Ausführungen zum "Judenthum" in der Schrift "Das Judenthum in der Musik".

Kulturhistorisch betrachtet schlägt hier die extreme religiöse Überhöhung des Bergbaus um, wie sie die Romantik betrieben hatte. Richard Wagner ist Novalis vielfältig und ambivalent verbunden. Im "Tannhäuser" greift er den Sängerkrieg auf der Wartburg auf, und zwar konkret die Legenden um Heinrich von Ofterdingen. Allerdings verweist die Forschung für den "Tannhäuser" lediglich auf Bezüge zu "Des Knaben Wunderhorn" (Clemens Brentano/Achim von Arnim), "Der getreue Eckart und der Tannenhäuser" (Ludwig Tieck) und "Der Kampf der Sänger" (E.T.A. Hoffmann), nicht auf den "Heinrich von Ofterdingen" Novalis'. Dass Wagner indes durchaus Novalis gelesen hat, zeigen die Bezüge in "Tristan und Isolde" zu den "Hymnen an die Nacht". Wie aber kommt es, dass der Bergbau bei ihm wieder von der christlichen Rechtfertigung abgelöst wird?

Ansätze hierzu finden wir bereits in der Romantik, deren Verhältnis zum Christentum weit offen ist für dessen heidnischen Unterstrom. In "Die Bergwerke zu Falun" von E.T.A. Hoffmann finden wir den Bergbau mit mythischen Motiven verbunden, mit Geistererscheinungen, Visionen und einer deutlich sexuell belegten "Bergkönigin". Wagner selbst setzt mit "Lohengrin" 1850 den Schlusspunkt seiner affirmierenden Bezüge auf den christlichen Kanon. Bereits 1848, im Umkreis der von Wagner unterstützten Revolution in Deutschland, beginnen die Arbeiten an "Siegfrieds Tod". Den zunächst schwachen Besuch der Bayreuther Spiele begründete Wagner Nietzsche gegenüber einem Zeugnis der Schwester Nietzsches zufolge später so: "Die Deutschen wollen jetzt nichts von heidnischen Göttern und Helden hören, die wollen was Christliches sehen." (Kurt Hildebrandt, Wagner und Nietzsche, 1924, S. 344).


Im Fortgang der Arbeit am Zyklus "Der Ring des Nibelungen" realisiert Wagner, eng verbunden mit nationalistischem Ideengut, implizite auch eine Neubewertung überlieferter Naturbilder, die über die Wagner eng verbundene Lebensreformbewegung um 1900 wirksam blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein.
Das "Heidnische" im Ring ist vorrangig markiert durch einen Reigen weiblicher Figuren, von den Rheintöchtern über Freia bis zu Brünnhilde. Die Rheintöchter partizipieren an der zeitgenössischen Sexualisierung der Verbindung von Wasser und Weiblichkeit, sind Verwandte von John Everett Millais' Ophelia und Heinrich Heines Loreley. Freia und Brünnhilde evozieren chtonische Muttergottheiten. Sie alle hängen am Ring des Alberich, entfalten sich vor seiner düsteren Thematisierung von Erde, Höhle, Bergbau.

Der Biograph Ulrich Drüner weist auch darauf hin, wie sehr Wagner seine Inspirationen aus alltäglichen Erfahrungen bezog, die sich ihm bedeutungsvoll aufluden (Drüner 2016, S. 148f). So hatte Wagner aus der Landschaft bei Eisenach die Verbindung von Wartburg (Sängerkrieg) und Hörselberg (Legenden zufolge der Zugang zur Hölle, "Venusberg") stets vor Augen. Der Bruder von Wagners verehrtem Stiefvater Ludwig Geyer, Karl Geyer, war Goldschmied in Eisleben, einer durch den Kupferbergbau groß gewordenen Stadt. Nach dem Tod seines Stiefvaters lebte Wagner hier etwa ein Jahr, 1821/1822. 1873 machte er in Eisleben mit Cosima Wagner Station auf einer Reise durch die Orte seiner Kindheit. In Wagners "Meistersinger" steht die Tochter eines Goldschmieds, Eva, im Mittelpunkt des Geschehens.

Lektüreempfehlung: Ulrich Drüner, Richard Wagner. Die Inszenierung eines Lebens, Blessing 2016




Bachofen: Mutterrecht
Johann Jakob Bachofens Publikation von 1861, "Mutterrecht", gilt als Entdeckung des Matriarchats, als erste fundierte Erschütterung der Gewissheit des patriarchal aufgestellten Bürgertums des 19. Jahrhunderts, dass Männer eben schon immer "das Sagen hatten" - wobei das Bürgertum Bachofens Werk zunächst weitgehend ignorierte. Wirkmächtig gelesen wurde er erst zwanzig Jahre später von Friedrich Engels, der sich in "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" emphatisch auf Bachofen bezog und damit eine breitere Bachofen-Rezeption einleitete. Dass Bachofen sich dabei nicht auf archäologische, anthropologische, soziologische und ethnologische Untersuchungen stützte (nicht stützen konnte, gab es diese doch nur rudimentär), sondern ausschließlich auf die kulturelle Überlieferung in historischen Berichten, Mythen, Legenden und religiösen Schriften, führte in den 1920er Jahren zu einer zweiten Entdeckung Bachofens, nun im rechten politischen Spektrum, eingeleitet durch Ludwig Klages mit seiner Schrift "Vom kosmischen Eros". Bachofens einseitige Datengrundlage schränkt aus heutiger Sicht die wissenschaftliche Brauchbarkeit seiner Herleitungen erheblich ein. Dies ändert jedoch nichts an der epochalen Bedeutung seiner Schrift.

In seiner "Vorrede und Einleitung" schreibt Bachofen von "Mutter Erde" und ihrer "wilden Vegetation", die "am reichsten und üppigsten in dem Sumpfleben den Blicken des Menschen sich darstellt". Die Verbindung von Weiblichkeit/Mütterlichkeit und "Sumpfleben" geht zurück auf die Dämonisierung des Weiblichen und Sexuellen im Christentum seit Augustinus und sollte im Faschismus besonders diffamierende Ausprägungen erfahren, wie Klaus Theweleit in seiner opulenten Untersuchung "männerphantasien" 1978 herausgearbeitet hat. Bachofen sieht diese Vorstellung in seinen Quellen repräsentiert und liest sie als Signum des "Hetärismus", einer frühen und spezifischen Ausprägung des Matriarchats. Es ist bemerkenswert, dass Bachofen die seit der Antike tradierte Verbindung von Frauen- und Naturvorstellungen noch einmal in extenso referiert und sie zugleich in Frage stellt mit seinem Nachweis einer historisch manifestierten Verbindung von Frauen und Kontrollmacht.

Hans G. Kippenberg wählt für seine Ausgabe Bachofenscher Schriften zu "Mutterrecht und Urreligion" als Motto eine Passage aus Livius, Ab urbe condita I 56. Dort erfahren Tarquinus und Brutus vom delphischen Orakel, wer von ihnen die Macht in Rom erhalten solle. "Ex infimo specu vocem redditam ferunt: imperium summum Romae habebit qui vestrum primus, O iuvenes, osculum matri tulerit." Brutus küsst daraufhin heimlich die Erde, da er davon ausgeht, das Orakel meine diese Mutter, "scilicet quod ea communis mater omnium mortalium esset". Das antike, "heidnische", Bild von "Mutter Erde" wurde dann vom Christentum massiv zurückgedrängt, lebte allerdings unterschwellig weiter, wie etwa das
"sora nostra matre terra" im Sonnengesang des Franz von Assisi zeigt oder die Schrift "Iudicium Iovis" des böhmischen Humanisten Paulus Niavis (i.e. Paul Schneevogel), verfasst um 1492/95 in Zittau. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts taucht "Mutter Erde" im Kontext von Frühindustrialisierung und Aufklärung wieder verwandelt auf, nun häufig als mütterlich gedachte Natur - so bei Rousseau und Hölderlin.

Bachofens Arbeit kommt das Verdienst zu, in der Umbruchsituation des 19. Jahrhunderts mit seinen bürgerlich-patriarchalen Zugriffen auf die natürliche Umwelt modellhaft vorgestellt zu haben, wie das "tellurische" Zeitalter eines "Sumpflebens" in die "demetrische" Gynaikokratie einer Ackerbaugesellschaft einmündet, die nicht Ausbeutung, sondern Erhalt der Fruchtbarkeit im nutzenden Zugriff zum Prinzip hatte. Vielleicht sollte heute wieder gelesen werden, wie Bellerophon den Poseidon (das übertretende Meer) auf das Land Lykien hetzt, dann aber vor den aufgeschürzten Lykierinnen zurückweicht (Kapitel "Lykien").



Stalins Terraforming-Projekte
Um eine differenzierte Darstellung der Umweltpolitik in der Sowjetunion haben sich die US-amerikanischen Forscher Douglas Weiner und Stephen Brain äußerst verdient gemacht. Weiner widmete sich dabei vor allem der Arbeit der Naturschutzverbände und den Widerständen, die ihnen von Verwaltungsseite begegneten, Brain untersuchte die staatliche Umweltpolitik am prägnanten Beispiel der Forstpolitik.

Forstpolitik und Umweltpolitik waren bereits im zaristischen Russland weitgehend identisch, insofern der zaristische Patriotismus den Wald zur Essenz der russischen Beheimatung erklärte - was nicht verhinderte, dass unter den Zaren immer wieder ein partieller Ausverkauf des Waldes stattfand: Für die Entwicklung des Landes und die Privatinteressen der Regierenden seit Peter dem Großen (der allerdings auch Aufforstungen und Waldschutz förderte), für die Schatullen des verarmenden Adels im 19. Jahrhundert und zur Kapitalakkumulation des erstarkenden Bürgertums um die Jahrtausendwende.

Vier praktische Funktionen wurden dem russischen Wald zugesprochen, und zwar bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts, verstärkt nach den Dürren mit folgenden Hungersnöten um 1900 und den katastrophalen Überschwemmungen in Moskau Anfang des 20. Jahrhunderts: Regulierung des Wasserhaushaltes für den Boden, Erosionsschutz, Hochwasserschutz, Klimaverbesserung. Dazu kam die symbolische Funktion der Identitätsstiftung für die russische Gesellschaft gegenüber den asiatischen Nachbarn und dem industriell vorangetriebenen europäischen Modernismus. Mythen und Märchen, Volkslieder und Bräuche haben diese Funktion gestützt. "In the first decades of the twentieth century, forest specialists devised theories inspired by the idea that the forest embodied Old Russia, and in the Soviet period, these concepts did not vanish, but instead survived, evolved, and in some ways thrived." (Brain 2011, S. 8). Insbesondere die Arbeit von Georgij Fjodorowitsch Morosow (1866-1920) übersetzte die patriotische Funktion, aber auch die praktischen Funktionen in ein Forstkonzept, dessen ausdrückliches Ziel der Erhalt bzw. die Rekonstruktion jeweils standorttypischer Wälder war - mit einer entschiedenen Abkehr vom Kahlschlag mit nachfolgender Nadelforstpflanzung. Seine Auffassungen verbreitete Morosow als Professor für Forstwirtschaft in Petersburg ab 1901 und als Herausgeber des "Lesnoj Schurnal" 1904-1919. Nach seinen Überzeugungen, 1917 vorgetragen auf der Allrussischen Konferenz der Förster und Forsttechniker in Petrograd, konnte auch nur der Staat als Waldbesitzer Garant einer entsprechenden Forstwirtschaft im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse sein.

"The Russian cultural ecosystem continued to support ideas about the central role that forests play in healthy landscapes, regardless of ephemeral political shifts and even the upheaval of Stalin's Great Break." (Brain 2011, S. 169) Morosows Ansätze wurden unter Stalin wesentlicher Bestandteil der Forstpolitik, insbesondere für die Wälder westlich des Ural. Brain kommt gar zu folgendem Schluss: "The Soviet appropriation of Morozov's theories led to the creation of a unique, distinctly Soviet form of environmentalism, herein called Stalinist environmentalism." (Brain 2011, S. 169) Dass auch dieser "environmentalism" verbunden war mit massenhaften Deportationen, todbringenden Arbeits- und Straflagern steht außer Frage.Stalins Großer Plan zur Umgestaltung der Natur -
                  Propagandaposter

Die Sowjetunion hatte vom Zarismus ein riesiges Reich übernommen, dessen Landwirtschaft unter anderem - je nach Region in unterschiedlichem Maße - an Dürren, Versumpfungen und Bodenerosion litt, die großteils durch die massiven Abholzungen verursacht oder zumindest verstärkt wurden. Insbesondere die Dürren sind ein noch immer bedrohliches Problem der russischen Landwirtschaft: Im Gebiet Wolgograd vertrockneten 2007 insgesamt 700.000 Hektar Sommergetreide, 2010 reduzierte die extreme Sommerhitze die Landwirtschaftsproduktion um 10%. Befürchtet wurde im Zarismus wie in der Sowjetzeit auch eine Ausbreitung der Steppe von Südosten her. Die forcierte nachholende sowjetische Industrialisierung und Verstädterung erforderte zudem eine erhebliche Effizienzsteigerung in der Lebensmittelversorgung. Dazu kam der auch zur Herrschaftslegitimation den südlichen Regionen gegenüber formulierte Anspruch, "Wüsten in blühende Landschaften zu verwandeln" (wusste Helmut Kohl, wen er zitiert?). Eine wesentliche Rolle bei der Bewältigung dieser Aufgaben sollte Aufforstung spielen.

Stalins "Plan zur Umgestaltung der Natur"
("Plan preobrasowanija prirody" - abgeleitet von "obrasowanie" = "Bildung", "Ausbildung", "Entstehung"), bekannt auch als "Großer Plan", wird heute vorwiegend verbunden mit der Umleitung der sibirischen Flüsse Ob und Jenissej, die ins nördliche Eismeer münden, nach Süden - mit Anlegung eines gigantischen Stausees von der siebenfachen Fläche der Schweiz und Überwindung der Wasserscheide. Dazu gehörte aber auch ein Projekt westlich des Ural-Gebirges, das von der Propaganda stärker in den Vordergrund gerückt wurde und dessen Realisierung wahrscheinlicher schien, zur Bewässerung und Aufforstung der Südregionen des russischen Kernlandes. Dieses Projekt - gerne gehandelt als typisches Beispiel sowjetischer Hybris - wurde in wesentlichen Elementen bereits 1871 erstmals skizziert, ausdrücklich zur "Klimaverbesserung in den anliegenden Ländern" (Jakiw Grigorowitsch Demtschenko, O nawodenii Aralo-Kaspijskoj nismennosti dlja ulutschenija klimata prileschaschtschich stran, Kiew 1871), im Zarismus immer wieder einmal thematisiert und unter Stalin ab 1940 von Mitrofan Michailowitsch Dawydow als Plan entwickelt, 1950 vom Ministerrat der UdSSR verabschiedet und 1986 unter Gorbatschow offiziell aufgegeben.

Anders als Propagandaplakate der Zeit nahelegen, die vor allem landwirtschaftliche Flächen in gleichmäßigen Rechtecken zeigen, stand hinter dem Plan auch ein gigantisches Aufforstungsprogramm. Sowohl die Flüsse als auch die landwirtschaftlichen Flächen sollten von Waldstreifen flankiert sein, gegen Erosion, Grundwasserabsenkung und Versumpfung. Insgesamt sollten 6 Millionen Hektar Wald neu angelegt werden. Brain nennt den Großen Plan daher "the world's first explicit attempt to reverse human-induced climate change" (Brain 2011, S. 140) - nicht ganz klar ist allerdings, wieviel bestehender Wald Stalins Projekt zum Opfer gefallen wäre. Zudem hätte die Umsetzung des Planes in weit massiverer Weise unkalkulierbar in Klimaregulationen eingegriffen als dies die Waldrodungen der Vergangenheit taten. Stalins Aufforstungs- und Waldschutzprogramme wurden allesamt nach seinem Tod weitgehend aufgegeben. In der Forstwirtschaft setzten sich schon vor Stalins Tod die Ideen des Agrarökonomen und Lamarckisten Trofim Denisowitsch Lysenko durch, der Morosows Ansätze als "romantisch", "bürgerlich" und "anti-sowjetisch" deklarierte - und der von Stalin im Landwirtschaftsbereich schon ab 1935 massiv unterstützt worden war, nicht zuletzt weil seine Theorien Planerfüllung versprachen und der sowjetischen Programmatik zur Gestaltung von Mensch und Umwelt ein wissenschaftliches Fundament zu geben schienen.

Erinnert sei abschließend auch daran, dass Karl der Große 792/93 den Plan hegte, Rhein und Donau zu einem Flußsystem zu verbinden, das vom Schwarzen Meer bis zur Nordsee reichen sollte.


Abbildung: "Stalins Plan zur Umgestaltung der Natur übertragen wir ins Leben!"
Lektüreempfehlung: Stephen Brain, Song of the Forest. Russian Forestry and Stalinist Environmentalism 1905-1953, University of Pitsburgh Press 2011





Land-Art
Gestaltung von Landschaft betreibt die Menschheit von Anbeginn, prägnant wird sie mit den ersten in Felsen gehauenen Siedlungen oder Rodungen für Ackerflächen, ihre späten Stufen kennen wir als "Geoengineering" - ein Begriff, der erstaunlicherweise fast nur noch synonym mit "Climate Engineering" verwendet wird. Dabei ging es um den pragmatischen Nutzen, nicht um Kunst. Mit der Errichtung von Kultstätten, Grabhügeln und ähnlichem wird jedoch schon früh die Grenze zur Kunst tangiert.

Was heute als "Land-Art" bezeichnet wird, entstand in den 60er Jahren - und sicherlich nicht nur zufällig zeitgleich mit der Hippie-Bewegung und ihren Landkommunen, mit dem Aufkommen der Ökologiebewegung und der Sensibilität für die Interaktion Mensch-Natur. Der britische Konzeptkünstler Keith Arnatt gräbt sich 1969 in Erde ein und setzt 1970 in Aachen-Monschau virtuell einen Kackhaufen zur Freiluftausstellung "Umwelt-Akzente" ab. Wie weit seine Aktionen legitim als Land-Art bezeichnet werden können, ist so strittig wie der exakte Begriff von Land-Art. Der einzige erkennbare gemeinsame Nenner ist, dass der Produktionsprozess draußen in der - mehr oder weniger - freien Landschaft/Natur stattfindet und Landschaft/Natur einbezieht und dass die substantielle Basis des Produktes draußen verbleibt (in der Regel werden jedoch Dokumentationen erstellt, die dem Kunstmarkt zugänglich sind).

Arnatt steht für die Verbindung von Land-Art mit Konzeptkunst und damit für die Thematisierung der künstlerischen Subjektivität. Am anderen Pol finden wir den Briten Andy Goldsworthy, der die Naturmaterialien und Naturprozesse selbst (auch Sukzession und Verfall) in den Mittelpunkt seines künstlerischen Interesses stellt. Für ihn sind Landschaft und Naturmaterialien per se Kunstwerke, die er ins Bewußtsein heben möchte. Dabei ist Hintergrundthema immer auch Zeit als entscheidende Dimension aller Natur-Kunst-Prozesse. Einem breiteren Publikum bekannt ist seine Arbeit durch den Film "'Rivers and Tides" von Thomas Riedelsheimer, 2001. Riedesheimer begleitete die Arbeit Goldworthys in vier Ländern über alle vier Jahreszeiten.

Einen dritten Ansatz vertritt Christo (Christo Wladimirow Jawaschew, geboren 1935 in Bulgarien), der zusammen mit seiner Frau Jeanne-Claude (1935-2009) nicht nur Gebäude einpackte, sondern auch Teile von Landschaften und Gewässern besonders markierte durch Verhüllung. Bei Christo und Jeanne-Claude wird unsere Art und Weise, Landschaft zu sehen und für das Sehen zu gestalten, wird Natur als Teil der Kulturgeschichte thematisch.



Gaia-Hypothese
In den 60er und 70er Jahren entwickelten die Mikrobiologin Lynn Margulis und der Biophysiker James Ephraim Lovelock die Gaia-Hypothese, wonach unser Planet sinnvoll als ein komplexes, einheitlich sich selbst regulierendes System verstanden werden könne. Eine Annahme, die inzwischen weitgehend theoretische Grundlage der Klimaforschung ist. Den Anfang machte Lovelock, der Ende der 1960er Jahre aus seinen Arbeiten mit Dian R. Hitchcock (1967) und C. E. Giffen (1969) zur "atmospheric homeostasis" (dynamische Konstanz der Gaszusammensetzung in der Erdatmosphäre mit ca. 21% Sauerstoff) die Auffassung ableitete, die Erde könne als lebender Organismus aufgefasst werden. Den Begriff "Gaia" verwendete er dafür erstmals in einem Beitrag für "Atmospheric Environment" 6/1972 mit dem Titel "Gaia as Seen Through the Atmosphere". Im Februar 1975 veröffentlichte Lovelock gemeinsam mit Sidney Epton in "New Scientist" den Beitrag "The quest for Gaia", der die Frage stellte, ob die sichtbaren, erfahrbaren Elemente unseres Planeten "part of a giant system which could be seen as a single organism" seien. Rückblickend schrieb Lovelock 1989 in "Reviews of Geophysics" unter dem Titel "Geophysiology, the science of Gaia": "To me it was obvious that the Earth was alive in the sense that it was a self-organizing and self-regulating system."

Lynn Margulis wurde wissenschaftlich vor allem bedeutsam durch ihre 1967 erstmals publizierte Hypothese, dass die nukleinsäurehaltigen Organellen der Zellen ursprünglich eingewanderte Bakterien gewesen seien. Davon ausgehend betonte Margulis in ihrer weiteren Arbeit im Kontrast zur Konkurrenzbetonung im Darwinismus den Aspekt der Kooperation von Organismen in der Evolution, wobei auch der Mensch nur Mitspieler einer gewaltigen, planetenumspannenden intrazellularen Symbiose sei. Anfang der 70er Jahre traf sie sich auf Empfehlung von Freunden mit Lovelock. 1974 veröffentlichten Margulis und Lovelock gemeinsam die Beiträge "Biological Modulation of the Earth's Atmosphere" in "Icarus" 21/1974 (eingereicht August 1973) und "Atmospheric Homeostasis by and for the Biosphere: The Gaia Hypothesis" in "Tellus" 26/1974, in denen sie die Gaia-Hypothese ausformulierten.

Anfang der 80er Jahre entwickelte Lovelock mit Andrew Watson das Daisyworld-Modell, die Computersimulation eines fiktiven Planeten mit schlichter Biosphäre aus zwei Gänseblümchen-Arten (weiße und schwarze), die von der Temperatur auf ihrem Planeten abhängig sind und diese zugleich stabilisieren, veröffentlicht in "Tellus" 4/1983 unter dem Titel "Biological homeostasis of the global environment: the parable of Daisyworld". Anliegen war auch, die Gaia-Hypothese plausibel zu machen. 1995 veröffentlichte Lovelock mit dem Geophysiker und Klimaforscher Lee R. Kump den Beitrag "The Geophysiology of Climate" in "Future Climates of the World", basierend auf Einsichten aus dem Daisyworld-Modell.

1995 erschien auch der Essay "Gaia is a Tough Bitch" von Margulis im spektakulären Sammelband "The Third Culture", den der Journalist John Brockman veröffentlichte (dt. 1996, "Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft"). Darin macht sie klar, dass "Gaia" den Menschen nicht zu ihrem Erhalt benötige. "Gaia ist ein zähes Weibsstück ("a tough bitch") - ein System, das über drei Milliarden Jahre lang ohne Menschen funktioniert hat. Die Oberfläche unseres Planeten, seine Atmosphäre und seine Umwelt werden auch dann noch weiter die Evolution durchlaufen, wenn Menschen und Vorurteile längst verschwunden sind." (Brockman 1996, S. 194)

Margulis distanziert sich in diesem Essay auch deutlich von Lovelocks personalisierender Gaia-Konzeption: "In Lovelocks Augen ist die ganze Welt ein Lebewesen. Ich bin mit dieser Formulierung nicht einverstanden. Kein Lebewesen frißt seine eigenen Abfälle. Ich bezeichne die Erde lieber als großes, zusammenhängendes Ökosystem, das aus vielen kleineren Ökosystemen zusammengesetzt ist. Lovelock möchte die Menschen glauben machen, die Erde sei ein Lebewesen, denn wenn sie darin nur einen Haufen Steine sehen, dann treten sie mit den Füßen darauf, mißachten und mißhandeln sie. Wer die Erde als Organismus sieht, wird sie in der Regel mit mehr Respekt behandeln. Für mich ist es eine hilfreiche Umschreibung, keine Wissenschaft. Dennoch bin ich mit Lovelock der Ansicht, daß das meiste, was Wissenschaftler tun, auch keine Wissenschaft ist. Außerdem ist mir völlig klar, daß er mit seinem Standpunkt die Idee von Gaia weit wirksamer vermitteln kann als ich." (Brockman 1996, S. 194)
 
In einem Beitrag der New York Times vom 14. Januar 1996, "Attack of the Microbiologists", wird Margulis wie folgt zitiert: "People think the earth is going to die and they have to save it. That's ridiculous. (...) There's no doubt that Gaia can compensate for our output of greenhouse gases, but the environment that's left will not be happy for any people." Lovelock vertrat lange auch diese Auffassung und warnte mit katastrophischen Bildern vor der Erderwärmung durch menschliches Handeln. 2012 korrigiert er seine Prognosen zur Erderwärmung. Er vertritt nunmehr die Auffassung, Gaia werde dafür sorgen, dass die Überlebensbedingungen für den Menschen erhalten bleiben. Ganz unverblümt vertritt er in "A Rough Ride to the Future" 2014 die tradierte christlich-jüdische Konzeption der Auserwähltheit des Menschen als Krönung der Schöpfung. Als Motto seines Buches wählt er einen Satz von Daniel Dennett, wonach der Mensch das Nervensystem des Planeten sei. Im Innern des Buches propagiert er die Atomenergie als Lösung der Erderwärmungs-Problematik.

Der Mediziner, Physiker und Psychophysiker Gustav Theodor Fechner hatte bereits 100 Jahre vor Lovelock und weit differenzierter als dieser die Frage gestellt, "ob nicht die ganze Welt über den Menschen hinaus ein psychophysisches System ist, auf welches die am menschlichen System bewährten Gesetze Anwendung finden" könnten (Kuntze 1892, S. 305). Und nochmal 50 Jahre zurück hatten Kant, Fichte, Hegel und Schelling sich mit Selbstorganisation im Bereich des Organischen oder gar im gesamten Naturprozess intensivst beschäftigt - teils in harscher Abgrenzung zu vorangegangen naturmythischen Spekulationen, teilweise im Bemühen, deren Gehalt aufgeklärt zu bewahren. Von all diesen Ansätzen unterscheidet sich der von Lovelock und Margulis gemeinsam formulierte substantiell durch die entschiedene Abkehr von einer anthropozentrischen Perspektive. Die Lovelock allerdings später wieder einnahm.

Bruno Latour hat im Kontext der Klimaschutz-Debatte und -Praxis das Gaia-Konzept als eine brauchbare Konstruktion zum Verständnis ökologischer Wechselbeziehungen erneut ins Spiel gebracht. 2015 erschienen seine Vorträge zum Thema unter dem Titel "Face à Gaïa. Huit conférences sur le nouveau régime climatique" auf Französisch, 2020 bei Suhrkamp unter dem Titel "Kampf um Gaia" auf Deutsch. Für Latour ist der naturwissenschaftliche Begriff einer analytisch zu erfassenden und technisch-wissenschaftlich zu beherrschenden und zu gestaltenden Natur veraltet. Das Gaia-Konzept eröffne ihm zufolge den Weg zu einem interaktiven, dynamisch-integrativen Naturverständnis. Sein Konzept bemüht sich um eine Vermittlung zwischen den beiden extremen Ausformungen des Gaia-Konzeptes, wonach Gaia entweder durch ihre Lebewesen für ihre Selbstoptimierung sorge (die alte romantisch-idealistische Konzeption - Optimierungsmodell) oder aber als strafende Mutter über negative Rückkopplungen (im Extremfall das Aussterben einer Spezies oder ganzer Klassen) ihren Bestand reguliert (homöostatisches Modell).

Lektüreempfehlung: John Brockman, Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft, Wilhelm Goldmann Verlag 1996




Medea-Hypothese
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelte der Paläontologe, Biologe und Geologe Peter Douglas Ward (*1949) die Medea-Hypothese, wonach das Leben auf der Erde prinzipiell selbst-destruktiv verfasst sei. Damit bezog Ward dezidiert die Gegenposition zur Lovelock-Margulisschen Gaia-Hypothese. Wards Medea-Hypothese geht auch, wie die Gaia-Hypothese, von einem Superorganismus aus, sieht dessen Praxis jedoch nicht auf Selbsterhaltung, sondern auf Selbstzerstörung ausgerichtet. Belege sieht er in der Methankrise vor 3,7 Milliarden Jahren, der Sauerstoffkatastrophe vor 2,5 Milliarden Jahren, zwei globalen Vergletscherungen vor 2,3 Milliarden und vor 790–630 Millionen Jahren und mehreren Schwefelwasserstoffkatastrophen - jeweils verbunden mit Massenaussterben höherer Lebensformen.

Die Grundlage für die Medea-Hypothese findet sich in einer Publikation Wards von 2004, mit dem  Titel "Gorgon", benannt nach den Gorgonopsiden, einer reptilienartigen Säugetiergruppe, die am Ende des Perm einem der fünf großen Massensterben der Arten zum Opfer fiel. Und deren Namen bereits (wie dann "Medea") auf die griechische Mythologie verweist, die Gorgonen, geflügelte Schreckgestalten. Allerdings wird für dieses Massenaussterben ein externes Ereignis, ein Asteroideneinschlag, verantwortlich gemacht. Von "Selbstzerstörung" kann hier korrekterweise nicht die Rede sein. Im Epilog von "Gorgon" heißt die Nebenüberschrift "Are We Living on a Safe Planet?". Die dort gegebene Antwort, ein großes Nein, vertritt die Auffassung, dass wir es nur Zufällen verdanken, dass dieser Planet schließlich uns als Menschheit hervorgebracht habe. Mit einer erstaunlichen Wendung zu einer Position, die eher Frank Wuketits zugeordnet wird: "Mass extinctions are thus agents of evolutionary novelty".

Der österreichische Biologe Franz Wuketits hatte zehn Jahre vor "The Medea-Hypothesis" schon vorweggenommen, was heute vom breiten Publikum Ward zugeschrieben wird. Wuketits schreibt unter dem Titel "Die Selbstzerstörung der Natur - Evolution und die Abgründe des Lebens" über die Bedeutung von Katastrophen für die Geschichte der Biologie. Für Wuketits führte - im Anschluss an Darwin - Zerstörung in der Natur zur Weiterentwicklung und letztlich zum Menschen, sie hatte also eine konstitutive Rolle für die Menschheit. Er führt auch aus, dass die Zerstörung der Natur durch den Menschen im aktuellen Zeitalter nur eine Ausprägung der naturimmanenten Zerstörungspotentiale sei. Und dass die Zerstörung notwendiges Korrelat neuer Schöpfungen sei. Der Mensch sei "zum größten Katastrophenbeschleuniger in der Natur geworden" und er zähle daher "wahrscheinlich (...) schon heute zu den 'Auslaufmodellen' der Evolution" (Wuketits 1999/2002, S. 135).

Ward geht davon aus, dass die meisten Massenaussterben nicht durch externen Einfluss, also Asteroideneinschlag, oder Vulkanausbrüche und ähnliche nicht-biologische Ursachen (die bei Wuketits dominieren) bedingt wurden, sondern durch biologische Effekte auf der Erde selbst, durch "wildgewordene Mikroben" ("microbes gone wild" - Ward 2009, S. 82). Seine Kernthese lautet: "Habitability of the Earth as been affected by the presence of life, but the overall effect of life has been and will be to reduce the longevity of the Earth as a habitable planet." (Ward 2009, S. 35). Wards provokativ-pessimistische Medea-Konzeption ist auch vor dem Hintergrund der wirtschaftsliberalen Restauration um die Jahrtausendwende zu verstehen, die Stellung unter anderem gegen ökologisch begründete Regulierungen des Wirtschaftslebens bezog, die, im schlichten Verständnis, von einer letztlich dem Menschen wohlgesonnenen Natur ausgehen.

Die Medea-Hypothese wurde dann von Ward selbst nicht weiter entwickelt. Sein gemeinsam mit Joe Kirschvink (dem "The Medea-Hypothesis" gewidmet ist) publiziertes Werk, "A New History of Live" von 2015, vermeidet weitgehend den Bezug zur Gaia-Hypothese und ebenso den Anschluss an die eigene Medea-Hypothese. Lediglich im letzten Kapitel, "Die Zukunft des Lebens auf der Erde", wird "die Medea-Hypothese von Koautor Ward" (Ward/Kirschvink 2016, S. 488) kurz erwähnt, versehen mit der "letzten Voraussage", die aus ihr ableitbar sei: "Aus dem selbstmörderischen Gefängnis, das das Leben schlicht durch seine Existenz schafft, gibt es nur einen Ausweg - Intelligenz." Und diese Intelligenz könnte etwa dazu führen, "dass unsere Spezies ihren Lebensraum zuerst auf den Mars, dann auf die Asteroidengürtel und am Ende auf andere Sterne erweitert" (ebd., S. 492). Jeder Ansatz zu einer Teleologie, einer negativen wie einer positiven, fehlt. Im Kern steht vielmehr die Aussage, dass wir aus den Katastrophen der Vergangenheit lernen könnten, künftige zu vermeiden oder diesen angemessen zu begegnen. Da alle vergangenen Massenaussterben mit massiven klimatischen Veränderungen verbunden waren, sollten wir die aktuelle Klimaerwärmung auch als ernsthafte Warnung annehmen (ebd., S. 15).

Lektüreempfehlungen: Franz M. Wuketits, Die Selbstzerstörung der Natur - Evolution und die Abgründe des Lebens, Patmos 1999 (zit. Taschenbuchausgabe dtv 2002). Peter Ward, The Medea-Hypothesis, Princeton University Press 2009. Peter Ward/Joe Kirschvink, Eine neue Geschichte des Lebens, Pantheon 2016 (zuerst engl. 2015)




Naturdinge als Rechtssubjekte
Ende der 1960er Jahre wollte die Walt Disney Company im Sequoia Nationalpark, mitten im Dreieck San Francisco-Los Angeles-Las Vegas gelegen, ein Skiresort mit 22 Pisten anlegen - plus einer Autobahn quer durch den Nationalpark. Die Umweltschutzorganisation Sierra Club, gegründet 1892, reichte beim Obersten Gerichtshof eine Klage ein, die 1972 abgelehnt wurde. Durch öffentlichen Druck wurde das Projekt dennoch durch eine Kongressentscheidung 1978, unter der Carter-Regierung, gestoppt.

Im Kontext der Auseinandersetzung veröffentlichte der nordamerikanische Philosoph und Jurist Christopher D. Stone 1972 im "Southern California Law Review" den Essay "Should Trees have Standing?". Darin geht er zunächst allgemein von den sozialen Kosten wirtschaftlicher Aktivitäten aus und fordert, "Every well-working legal-economic system should be so structured as to confront each of us with the full costs that our activities are imposing on society" (Stone 1974, S. 27). In mehreren Anläufen entfaltet er die Grundlagen dafür, Naturdinge und Naturgegebenheiten als Rechtssubjekte anzusehen, unter rechtlich-operationalen Aspekten sowie unter psychologischen und sozialpsychologischen Aspekten. Zum Ende seiner Erörterungen schließt er an die Gaia-Hypothese Lovelocks an: "I do not think it too remote that we may come to regard the Earth, as some have suggested, as one organism, of which Mankind is a functional part" (Stone 1974, S. 52). Der Bundesrichter William O. Douglas griff Stones Programm auf und führte in seinem Dissens zur Klageentscheidung im gleichen Jahr unter anderem aus:

"Inanimate objects are sometimes parties in litigation. A ship has a legal personality, a fiction found useful for maritime purposes. The corporation sole — a creature of ecclesiastical law — is an acceptable adversary and large fortunes ride on its cases. The ordinary corporation is a "person" for purposes of the adjudicatory processes, whether it represents proprietary, spiritual, aesthetic, or charitable causes.

So it should be as respects valleys, alpine meadows, rivers, lakes, estuaries, beaches, ridges, groves of trees, swampland, or even air that feels the destructive pressures of modern technology and modern life. The river, for example, is the living symbol of all the life it sustains or nourishes — fish, aquatic insects, water ouzels, otter, fisher, deer, elk, bear, and all other animals, including man, who are dependent on it or who enjoy it for its sight, its sound, or its life. The river as plaintiff speaks for the ecological unit of life that is part of it. Those people who have a meaningful relation to that body of water — whether it be a fisherman, a canoeist, a zoologist, or a logger — must be able to speak for the values which the river represents and which are threatened with destruction."

(Stone 1974, S. 73ff)

Wir haben hier eine der ersten qualifizierten zeitgenössischen Begründungen für die Behandlung von Naturdingen als Rechtssubjekte vorliegen. Vorläufer kennen wir aus Mittelalter und früher Neuzeit, insofern bis ins 17. Jahrhundert hinein Tiere verschiedenen Dokumenten zufolge als strafmündig angesehen wurden. Der Historiker Peter Dinzelbacher, spezialisiert auf die Erforschung des Mittelalters, veröffentlichte 2006 die Untersuchung "Das fremde Mittelalter. Gottesurteile und Tierprozesse". Damit trug er das Thema ins allgemeine Bewußtsein, insbesondere mit seinem gerne zitierten Beispiel der Maikäferprozesse von Lausanne (1478/79). Allerdings bestehen an der Ernsthaftigkeit dieser Prozesse erhebliche Zweifel, unter anderem vorgetragen von der Rechtshistorikerin Eva Schumann, die als ursprüngliche Quelle solcher Berichte Schwänke und Anekdoten annimmt, die das Genre der Fabel aufgreifen (Eva Schumann: Tiere sind keine Sachen, in: Beiträge zum Göttinger umwelthistorischen Kolloquium 2008-2009).

Der Ansatz von Stone und Douglas 1972 ist ein anderer. Er geht nicht von Ähnlichkeiten und Verwandtschaften in den Verhaltensweisen und Vermögen von Tieren und Menschen aus, sondern von einer Wertschätzung, die eher dem Sachenrecht entstammt. Dieser Ansatz tritt aktuell zurück hinter dem Bestreben, Tiere und Pflanzen, im Gaia-Ansatz gar den Planeten insgesamt, als Rechtsubjekte im Ausgang von einer real festgestellten oder unterstellten Fähigkeit zur Empfindung und einer gesteuerten Reaktion auf die Empfindung aufzufassen.

Lektüreempfehlung: Christopher D. Stone, Should Trees Have Standig? Toward Legal Rights for Natural Objects, Los Altos: Kaufmann, 1974




Paradise Engineering
Der utilitaristische Philosoph und Futurologe David Pearce wurde bekannt als Mitbegründer der "World Transhumanist Association", seit 2008 "Humanity+". In einem Videostatement definiert er "transhumanism" als "the idea that we can use technology to overcome our biological limitations". Auf seiner Website will er zeigen, "how biotechnology will eradicate suffering in all sentient life". Der Zeithorizont ist dabei sehr großzügig gewählt. In etwa 1000 Jahren, so skizziert er in einem Vortrag 2008 ("The Reproductive Revolution"), sei die Menschheit gentechnologisch so weit entwickelt, dass es weder Leid noch Tod gebe, nur immerwährendes Glücklichsein: "Suffering of any kind will be biologically impossible."

Pearce sieht die Menschheit in der Pflicht, zunächst im eigenen Verhalten, durch eine strikt vegane Lebensweise, Leiden für die Tierwelt zu vermeiden. Darüber hinaus aber sei die Menschheit ethisch verpflichtet, neben der Abschaffung des Leidens für die Menschheit und durch die Menschheit auch das inhärente Leiden in der fühlenden Tierwelt umfassend zu beenden durch "Paradise Engineering". Unter anderem sollen nach seiner Auffassung Beutegreifer zu Vegetariern werden.

In "Compassionate Biology" führt Pearce aus, wie schon zum Ende dieses Jahrhunderts ein "High-tech Jainism" für die fühlende, sich sexuell reproduzierende Tierwelt Leiden drastisch reduzieren könne, zu geringen Kosten. Pro Spezies rechnet er mit gerade einmal 10.000 Dollar um eine entsprechende genetische Veränderung einzuschleußen in das Genom. Diese Veränderung könne z.B. eine signifikant erhöhte Schmerztoleranz bewirken. Weitere Eingriffe werden langfristig aus Beutegreifern Vegetarier machen, davor könnten sie leidensmindernd mit Kunstfleisch ernährt werden.


Pearce betreibt u.a. die Website "www.paradise-engineering.com", die sein Manifest von 1995, "The Hedonistic Imperative. Heaven on Earth?" präsentiert. Am Beginn von "The Molecular Biology of Paradise", einer Bilderstrecke zum Text des Manifestes, begegnet uns der utilitaristische Theologe, Physiker und Chemiker Joseph Priestley (1733-1804) mit seinem Diktum "Whatever was the beginning of this world, the end will be glorious and paradisical, beyond what our imagination can conceive". Damit schließt Pearce sich dem eschatologischen religiösen Diskurs an, den wir etwa von Edward Hicks und der Quäkerbewegung allgemein kennen. In seinem Kapitel "Reprogramming Predators" wird entsprechend Jesaja 11:6 zitiert: "And the wolf shall dwell with the lamb".

Inzwischen werden die Pearceschen Ideen auch gelegentlich in den Auseinandersetzungen zwischen PETA und Jägerschaft zitiert.



Epochenschwelle Corona
Schon während der sogenannten "ersten Welle" der Corona-Pandemie tauchte die Rede davon auf, nach Corona sei nichts mehr wie vorher. Und dies aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Der ehemalige Media-Markt-Saturn-Chef Wolfgang Kirsch bezog sich auf die Einkaufsgewohnheiten, die zeitgemäßer würden, der italienische Philosoph Giorgio Agamben sah einen neuen Totalitarismus aufziehen - um nur zwei bezeichnende Beispiele zu nennen. Zunächst verhalten wurden dann auch die Begriffe "Epochenbruch" und "Epochenschwelle" eingebracht - und zügig als unangemessen oder im Corona-Blick verengt kritisiert, so von Andreas Reckwitz, der in der ZEIT am 10. Juni 2020 davon schrieb, dass wir uns schon seit einigen Jahrzehnten in einem Epochenumbruch befänden. Und zu erinnern ist etwa daran, dass Bischof Karl Kardinal Lehmann schon zur Jahresschlussandacht 2015 im Hohen Dom zu Mainz mit Blick auf die Flüchtlingskrise und die Klimaerwärmung die Frage stellte, ob wir an einer Epochenschwelle stünden.

Mit der "zweiten Welle" kehren diese Begriffe nun (Stand Dezember 2020) aufgefrischt und angesichts des zweiten Lockdowns sowie weiterer hoch infektiöser Virusmutationen nicht mehr so ohne weiteres negierbar zurück. Dabei zeichnen sich drei Dimensionen ab, die ihre Anwendung zu rechtfertigen scheinen. Zum einen werden ideologische Kernbestände der liberalen Marktwirtschaft in einem bislang unvorstellbaren Maße erodiert. Wenn ernsthaft über öffentlich finanzierte "Unternehmergehälter" diskutiert wird - und sei es zunächst nur für Freiberufler und Kleingewerbe - ist der Bereich dessen, was bislang über Subventionen, Schutzzölle, Staatsaufträge und ähnliche Stützungsmittel "unfrei" an der freien Wirtschaft war, definitiv verlassen. Auch die massive Unterstützung eines privatwirtschaftlich organisierten Infrastrukturunternehmens wie der Lufthansa bringt Verwerfungen, die der aktuell auffrischenden Kapitalismuskritik ein fünftes Movens beschert - nach Klimaerwärmung, internationalen Fluchtbewegungen, Wassernotständen und Biodiversitätsschwund. Zum anderen und mit der Kapitalismuskritik verbunden wird sich das Verhältnis Individuum-Kollektiv verändern, wobei die Perspektive denkbarer Entwicklungen von neuen Totalitarismen bis hin zu neuen gesellschaftlichen Freiräumen für Gruppen und Lebensstile weit offen ist.

Hier möchte ich noch einen dritten Prozess bedenken: Zu erwartende, ja schon ablaufende Umstrukturierungen, Neuformierungen in unseren gesellschaftlichen und individuellen Naturverhältnissen.

Seit Jahren, verstärkt seit Beginn der Corona-Pandemie, wird darauf hingewiesen, dass die Bedrängung der Wildtiere in ihren natürlichen Lebensräumen und die Zerstörung ihrer Lebensräume grundsätzlich den Viren-Übergang von Tieren auf Menschen (Zoonosen) begünstige - zumal in den zerstörten Lebensräumen häufig Siedlungen entstehen. Regionen wie Südostasien und Südamerika, in denen in besonderem Umfang seit Jahren großflächig Wälder gerodet werden, bieten besonders fatale Voraussetzungen für Epidemien und Pandemien auf der Basis von Zoonosen (zu denen neben Corona auch HIV und andere besonders bedrohliche Infektionskrankheiten der jüngeren Zeit gehören). Wobei in Südostasien auch noch der Verzehr virusbelasteter Wildtierarten zur Risikoerhöhung hinzukommt. Mit der Lebensraumzerstörung verbunden ist ein Rückgang der Biodiversität, was zum Überleben und zur Ausbreitung einiger anpassungsfähiger Generalisten führt, die als Virensammler fungieren und gerade die besonders anpassungsfähigen Virenarten verbreiten. Am 29. Oktober 2020 veröffentlichte der UN-Weltbiodiversitätsrat IPBES die Ergebnisse seines sommerlichen Workshops zu "Biodiversität und Pandemien". Der Agroökologe, Biologe und Umweltforscher Josef Settele hat mit seinem Buch "Die Triple Krise" am 6.11.2020 eine hilfreiche Zusammenfassung der bisherigen einschlägigen Forschungsergebnisse veröffentlicht und Pandemien, Klimawandel und Artensterben als drei Folgen des gleichen menschlichen (Fehl-)Verhaltens eingeordnet: Folgen der weitgehend uneingeschränkten Ausbeutung der Natur durch Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und kriminelle Strukturen.

Das große Versprechen des naturwissenschaftlich-ökonomischen Naturumgangs hieß: Sicherheit zu bieten gegenüber den Unberechenbarkeiten der Naturprozesse, gegen die elementaren Lebensbedrohungen durch Krankheit, Hunger und Witterung. Alle drei Bedrohungen kehren nun in beunruhigenden Ereignissen auf der Rückseite der geleisteten Naturbeherrschung zurück, Krankheit in Gestalt von Covid-19 u.a., Hunger als absehbare strukturelle Folge des Biodiversitätsschwundes (eingebunden in den Komplex der Degradation von Böden sowie Wasserreservoires) und Witterung in den Auswirkungen der Ressourcenverschwendung als Klimaerwärmung durch Methan und CO2. Covid-19 kommt dabei insofern eine besondere Funktion zu, als die Folgen menschlichen Fehlverhaltens im Naturumgang nun unmittelbar und individuell erlebbar auch in wohlhabenden Ländern lebensbedrohend werden und darüber hinaus Freiheit und Konsummöglichkeiten, die Legitimationspfeiler der einschlägig noch dominierenden Gesellschaftssysteme, erheblich einschränken. Eines der wichtigsten Stichworte zum Verständnis des Umgangs mit Covid-19 ist der Kontrollverlust. "Vor Corona kann man nicht davonlaufen!" - Dies sagte die elfjährige Tochter von Freunden 2020 zu mir. Und sie trifft damit den Kern unseres Problems mit Covid-19. Ihre Position kindlicher Demut desavouiert aufs Schärfste die Demonstration von Allmachtsphantasien, die sich an Lockdown-Regelungen und Impfstoffverteilungspläne klammern und die totale Rückverfolgbarkeit der Infektionen zum Credo machen. Dem gegenüber fordert der UN-Weltbiodiversitätsrat Ursachenbekämpfung ein - und das heißt auch, die Pandemie nicht nur mit den Prinzipien zu bekämpfen, die sie mit verursacht haben.

Die Zukunft wird zeigen, ob die Antwort nun eine weitere "Humanisierung" des Planeten im Sinne einer totalen Zurichtung auf menschliche Bedürfnisse sein wird, mit weiteren Ausrottungswellen zur (gezielten oder beilaufenden) Reduktion der Grundlagen für Zoonosen, oder eine substantielle Anerkennung der Humanität begründenden und erhaltenden Leistung des Naturhaushaltes und der Biodiversität insgesamt.